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Der Oligarch

Der Oligarch

Titel: Der Oligarch Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Daniel Silva
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überhaupt nicht umgebracht!«, kreischte sie. »Irina lebt, Grigorij! Irina lebt!«

TEIL V
D IE S TUNDE DER W AHRHEIT

73 M OSKAU – L ONDON – J ERUSALEM
    In den Tagen nach dem Ende des G8-Gipfeltreffens in Moskau machten drei scheinbar nicht zusammenhängende Nachrichten rasch nacheinander Schlagzeilen. Die erste betraf Russlands unsichere Zukunft, die zweite seine dunkle Vergangenheit. Die dritte Nachricht, die mit den beiden anderen zusammenhing, würde sich letztlich als die umstrittenste erweisen. Aber das sei zu erwarten gewesen, murrten einige alte Hasen in den britischen Geheimdiensten, denn die Hauptperson dieser Story war kein anderer als Grigorij Bulganow.
    Die erste Nachricht kam genau eine Woche nach dem Gipfel und betraf die russische Wirtschaft – genauer gesagt die äußerst wichtige Energiewirtschaft des Landes. Weil dies zumindest aus Moskaus Sicht eine gute Nachricht war, hatte der russische Präsident es sich vorbehalten, sie selbst bekannt zu geben. Das tat er von einigen seiner engsten Mitarbeiter – lauter KGB-Veteranen – umgeben auf einer Pressekonferenz im Kreml. In einer lapidaren Mitteilung, die er mit dem starren Blick vortrug, der sein Markenzeichen war, gab der Präsident bekannt, der abtrünnige ehemalige Oligarch Wiktor Orlow, der jetzt in London lebte, habe endlich das Handtuch geworfen. Alle Anteile Orlows an Rusoil, dem sibirischen Ölgiganten, seien auf den staatlichen Energieversorger Gasprom übertragen worden. Im Gegenzug, sagte der Präsident, hätten die russischen Behörden sich bereit erklärt, alle Verfahren gegen Orlow einzustellen und den in Großbritannien laufenden Auslieferungsantrag zurückzuziehen.
    In London lobte die Downing Street diese Geste des russischen Präsidenten als »staatsmännisch«, während sich Russlandkenner im Außenministerium und in den Osteuropa-Instituten öffentlich fragten, ob aus Osten vielleicht ein neuer Wind wehe. Wiktor Orlow fand solche Spekulationen hoffnungslos naiv, aber die Journalisten, die an seiner hastig angesetzten Londoner Pressekonferenz teilnahmen, gingen mit dem Gefühl, Orlow habe seinen alten Kampfgeist eingebüßt. Sein Entschluss, Rusoil abzugeben, sagte er, beruhe auf einer realistischen Einschätzung der Fakten. Im Kreml herrschten jetzt Männer, die vor nichts zurückschreckten, um zu bekommen, was sie wollten. Im Kampf gegen solche Männer, das gestand er ein, könne es keinen Sieg, sondern nur den Tod geben. Oder vielleicht etwas Schlimmeres als den Tod. Orlow versprach, er werde sich nicht mundtot machen lassen, und verkündete dann prompt, er habe sonst nichts zu sagen.
    Zwei Tage später erhielt Wiktor Orlow bei einem kleinen Empfang in der Downing Street Nummer 10 seinen britischen Pass überreicht. Er wurde auch zu einer privaten Besichtigung des Buckinghampalasts unter persönlicher Führung der Königin eingeladen. Dabei knipste er viele Fotos der Privaträume ihrer Majestät und gab sie seinem Innenausstatter. Am Cheyne Walk fuhren bald Möbelwagen vor, und Passanten konnten manchmal einen Blick auf Orlow in seinem Arbeitszimmer erhaschen. Offenbar hatte er beschlossen, es sei nun ungefährlich die Vorhänge aufzuziehen und seinen herrlichen Blick auf die Themse zu genießen.
    Auch die zweite Nachricht kam aus Moskau, aber im Gegensatz zu der ersten schien sie den russischen Präsidenten vorübergehend sprachlos zu machen. Sie betraf eine Entdeckung in einem Birkenwald in der Wladimirskaja Oblast: mehrere Massengräber mit zahllosen Opfern von Stalins Großem Terror. Nach vorläufigen Schätzungen lagen dort rund siebzigtausend Seelen begraben. Der russische Präsident tat den Fund als »wenig bedeutsam« ab und ignorierte Aufforderungen, die Gräber zu besuchen. Solch eine Geste wäre politisch heikel gewesen, weil Stalin, nun schon über ein halbes Jahrhundert tot, noch immer zu den populärsten Gestalten des Landes gehörte. Widerstrebend gestattete er Nachforschungen in den NKWD- und KGB-Archiven und erlaubte der russisch-orthodoxen Kirche, an den Gräbern eine kleine Gedenkstätte zu errichten – natürlich erst nach Genehmigung durch den Kreml. »Aber Selbstvorwürfe wollen wir den Deutschen überlassen«, sagte er in seinem einzigen Kommentar. »Schließlich ist zu bedenken, dass Koba diese Repressalien angeordnet hat, um das Land für den bevorstehenden Krieg gegen die Faschisten zu ertüchtigen.« Alle Anwesenden überlief ein Frösteln, als sie hörten, wie distanziert der Präsident

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