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Der Oligarch

Der Oligarch

Titel: Der Oligarch Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Daniel Silva
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schliefen. Und sie träumten natürlich von Iwan Charkow. Tatsächlich war es Charkow, den Gabriel am meisten vor sich sah. Char kow streifte ständig durch Gabriels Unterbewusstsein – in seiner englischen Maßkleidung, mit einer Makarow in der Hand. Manchmal wurde er von Jekaterina und seinen Leibwächtern begleitet. Meistens war er jedoch allein. Und er zielte immer in Gabriels Gesicht.
    Viel Spaß beim Zusehen, wie Ihre Frau stirbt, Allon.
    Chiara redete nicht gern über das, was sie durchgemacht hatte, und Gabriel drängte sie nicht dazu. Als Sohn einer Frau, die die Schrecken des Todeslagers Birkenau überlebt hatte, wusste er, dass Chiara unter akuten Schuldgefühlen litt – den Schuldgefühlen einer Überlebenden, die dieser eine eigene, spezielle Hölle bereiteten. Chiara lebte und Grigorij war gestorben. Er hatte den Tod gefunden, weil er rasch vor sie getreten war, sodass die für sie bestimmte Kugel ihn getroffen hatte. Dies war das Bild, das Chiara in ihren Träumen am häufigsten sah: Grigorij, misshandelt und kaum imstande, sich auf den Beinen zu halten, brachte die Kraft auf, sich vor Charkows Pistole zu werfen. Chiara war mit Grigorijs Blut bespritzt worden. Sie lebte, weil sich Grigorij für sie geopfert hatte.
    Der Rest kam nur bruchstückweise aus ihr heraus, manchmal zu den unmöglichsten Zeiten. Eines Tages schilderte sie Gabriel beim Abendessen in allen Einzelheiten ihre Gefangennahme und Liors und Mottis Tod. Zwei Tage später erzählte sie beim Abwaschen, wie es gewesen war, so lange Zeit im Dunkeln zuzubringen. Und wie die Sonne jeden Tag für wenige Augenblicke die Schneewehe vor dem winzigen Fenster hatte erglühen lassen. Und eines Nachmittags gestand sie Gabriel beim Wäschezusammenlegen unter Tränen, dass sie ihn in Bezug auf ihre Schwangerschaft belogen hatte. Sie war zum Zeitpunkt der Entführung im zweiten Monat schwanger gewesen und hatte das Kind in Charkows Zelle verloren. »Wegen der Drogen«, fügte sie erklärend hinzu. »Sie haben mein Kind getötet. Sie haben unser Kind getötet.«
    »Warum hast mir nicht die Wahrheit gesagt? Dann hätte ich nie versucht, Grigorij zu befreien.«
    »Ich hatte Angst, du würdest mir böse sein.«
    »Weswegen?«
    »Weil ich schwanger geworden war.«
    Gabriel, dem Tränen übers Gesicht liefen, legte den Kopf in Chiaras Schoß. Er weinte aus Schuldbewusstsein, aber auch aus Zorn. Auch wenn Charkow das nicht wusste, hatte er es geschafft, Gabriels Kind zu ermorden. Sein ungeborenes Kind, aber trotzdem sein Kind.
    »Wer hat dir die Spritzen gegeben?«, fragte er.
    »Die Frau in der Datscha. Ihren Tod sehe ich jede Nacht aufs Neue. Das ist die einzige Erinnerung, vor der ich nicht wegzulaufen versuche.« Sie wischte ihm die Tränen ab. »Du musst mir drei Dinge versprechen, Gabriel.«
    »Was du willst.«
    »Versprich mir, dass wir ein Kind haben werden.«
    »Versprochen.«
    »Versprich mir, dass wir uns nie mehr trennen.«
    »Niemals.«
    »Und versprich mir, dass du sie alle liquidierst.«
    Am nächsten Tag stellten sich diese beiden menschlichen Wracks am King Saul Boulevard vor. Gemeinsam mit Michail wurden sie rigorosen körperlichen und psychologischen Tests unterzogen. Abends wertete Uzi Navot die Ergebnisse aus. Dann rief er Schamron in seinem Haus in Tiberias an.
    »Wie schlimm?«, fragte Schamron.
    »Sehr.«
    »Wann sind sie wieder einsatzfähig?«
    »Das wird noch eine Weile dauern.«
    »Wann, Uzi?«
    »Vielleicht nie mehr.«
    »Und Michail?«
    »Der ist in schlimmer Verfassung, Ari. Das sind sie alle drei.«
    Schamron machte eine Pause. »Schlimm wäre es, ihn untätig zu Hause herumhocken zu lassen. Wie ein gestürzter Reiter muss er wieder aufs Pferd.«
    »Du hast wohl schon eine Idee?«
    »Wie geht die Vernehmung Petrows voran?«
    »Er wehrt sich ziemlich hartnäckig.«
    »Fahr in den Negev, Uzi. Mach den Vernehmern Feuer unterm Hintern.«
    »Was willst du?«
    »Ich will die Namen. Alle Namen.«

74 J ERUSALEM
    Unterdessen war es März geworden. Der kalte Winterregen war gekommen und hatte sich wieder verzogen, das Frühlingswetter war warm und schön. Auf Anraten der Ärzte versuchten sie, ihre Wohnung mindestens einmal täglich zu verlassen. Sie genossen das Alltägliche: auf dem belebten Machane-Jehuda-Markt einkaufen, durch die engen Gassen der Altstadt schlendern, in einem ihrer Lieblingsrestaurants still zu Mittag essen. Weil Schamron darauf bestand, wurden sie stets von zwei Leibwächtern begleitet, jungen Männern mit

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