Der Oligarch
über Massenmorde sprach. Und auch aufgrund der Tatsache, dass er Stalins alten Kampfnamen Koba benutzte. Die näheren Umstände der Auffindung der Massengräber blieben so unbekannt wie der Name des Grundstücksbesitzers. »Das dient nur seinem Schutz«, beteuerte ein Kremlsprecher. »Geschichte kann etwas sehr Gefährliches sein.«
Die dritte Nachricht kam nicht aus Moskau, sondern der manchmal auch London genannten russischen Großstadt. Sie handelte ebenfalls vom Tod – nicht vom Tod Zehntausender, sondern von dem eines einzelnen Mannes. Grigorij Bulganow, FSB-Deserteur und Publicity-süchtiger Dissident, war auf einem verlassenen Themsekai tot aufgefunden worden. Er hatte offenbar Selbstmord begangen. Scotland Yard und das Innenministerium verschanzten sich hinter nationalen Sicherheitsaspekten und gaben nur spärliche Einzelheiten bekannt. Sie bestätigten jedoch, Grigorij sei ein unruhiger Geist gewesen, der sich dem Leben im Exil nicht sonderlich gut angepasst habe. Als Beweis dafür führten sie an, dass er versucht hatte, seine Exfrau zurückzugewinnen – wobei sie zu erwähnen vergaßen, dass eben diese Frau jetzt mit neuem Namen und unter staatlichem Schutz in Großbritannien lebte. Mitgeteilt wurde auch die etwas seltsame Tatsache, dass Grigorij vor Kurzem nicht zum Meisterschaftsfinale im Central London Chess Club angetreten war, das er mühelos hätte gewinnen müssen. Sein Finalgegner Simon Finch tauchte kurz in der Presse auf, um seine Entscheidung zu rechtfertigen, den Titel zu beanspruchen, weil sein Gegner nicht angetreten war. Gleichzeitig nutzte er seinen öffentlichen Auftritt dazu, für sein neuestes Anliegen zu werben: ein Verbot von Landminen. Buckley & Hobbles, Grigorij Bulganows Verlag, gab bekannt, Olga Schukowa, seine Freundin und Mitdissidentin, habe es freundlicherweise übernommen, sein Buch Killer im Kreml fertigzustellen. Diese erschien kurz zu Grigorijs Beerdigung auf dem Friedhof Highgate, bevor sie, von mehreren bewaffneten Leibwächtern begleitet, wieder an einen unbekannten Ort verschwand.
Viele britische Journalisten, vor allem Leute, die Grigorij persönlich gekannt hatten, taten die Selbstmordtheorie der Behörden als Unsinn ab. Weil Fakten fehlten, konnten sie nur spekulieren, was sie hemmungslos taten. Grigorij habe offenbar in Moskau Feinde gehabt, die seinen Tod wünschten. Und einer dieser Feinde, behaupteten sie, habe ihn umgebracht. Die Financial Times wies auf Grigorijs enge Beziehungen zu Wiktor Orlow hin und vermutete einen Zusammenhang zwischen dem Tod des Überläufers und der Rusoil-Affäre. Orlow seinerseits bezeichnete seinen toten Landsmann als »wahren russischen Patrioten« und stiftete einen Freiheitsfonds, der dessen Namen trug.
Und damit war der Fall zumindest für die etablierten Medien erledigt. Aber im Internet und in Skandalblättern zog er noch wochenlang weitere Artikel nach sich. Das Wundervolle an Verschwörungstheorien ist die Tatsache, dass jeder clevere Journalist meist irgendeinen Zusammenhang zwischen zwei Ereignissen herstellen kann, und seien sie noch so entlegen. Aber keiner der Journalisten, die wegen Grigorijs rätselhaftem Tod recherchierten, versuchte jemals, ihn mit den neu entdeckten Massengräbern in der Wladimirskaja Oblast in Verbindung zu bringen. Sie stellten auch keine Verbindung zwischen dem russischen Überläufer und dem untröstlichen Paar her, das sich in eine ruhige kleine Wohnung in der Jerusalemer Narkiss-Straße zurückgezogen hatte. Die Namen Gabriel Allon und Chiara Zolli kamen in der Story nicht vor. Und sie würden auch nie in diesem Zusammenhang auftauchen.
Sie hatten sich schon früher von operativen Traumata erholt, aber nie gleichzeitig, beziehungsweise von so tiefen Verletzungen. Ihre körperlichen Wunden heilten rasch. Die anderen schwärten jedoch weiter. Die beiden verkrochen sich, von bewaffneten Männern beschützt, hinter abgesperrten Türen. Weil sie es nicht ertrugen, länger als einige Sekunden getrennt zu sein, folgten sie einander von Zimmer zu Zimmer. Wenn sie sich liebten, geschah es gierig, als könnte jede Begegnung die letzte sein, und es gab kaum einen Augenblick, in dem sie einander nicht berührten. Ihr Schlaf wurde durch Albträume zerrissen. Sie träumten davon, einander sterben zu sehen. Sie träumten von dem Kerker unter der Datscha in den Wäldern. Sie träumten von den Tausenden, die dort ermordet worden waren, und den Tausenden, die in anonymen Gräbern unter den Birken
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