Der Oligarch
Steintreppe in sein Zimmer hinauf. Das Bett war leer; seine Frau Chiara war seit drei Tagen in Venedig, wo sie ihre Eltern besuchte. Wegen ihrer Arbeit hatten sie schon öfters lange Trennungen erdulden müssen, aber dies war die erste, die sie freiwillig vereinbart hatten. Gabriel, von Natur aus ein Einzelgänger, der die meiste Zeit wie besessen arbeitete, hatte erwartet, dass ihre kurze Abwesenheit leicht zu ertragen wäre. Doch stattdessen fühlte er sich ohne sie ganz elend. Aber er empfand dieses Gefühl als eigenartig tröstlich. Es war schließlich normal, dass sich ein glücklich verheirateter Mann nach seiner Frau sehnte. Für Gabriel Allon – ein Kind von Holocaust-Überlebenden, hochbegabter Künstler und Restaurator, Auftragskiller und Spion – war das Leben bisher alles andere als normal verlaufen.
Er setzte sich auf Chiaras Bettseite und blätterte in dem Lektürestapel auf ihrem Nachttisch. Modejournale, Einrichtungsratgeber, italienische Ausgaben amerikanischer Krimis, ein Buch über Kindererziehung – interessant, dachte er, da sie kinderlos waren und seines Wissens kein Kind erwarteten. Chiara hatte angefangen, dieses Thema vorsichtig anzusprechen. Gabriel fürchtete, es würde bald zu einem Streitpunkt in ihrer Ehe werden. Die Entscheidung, wieder zu heiraten, war schwierig genug gewesen. Die Vorstellung, ein weiteres Kind zu haben – selbst mit einer Frau, die er so sehr liebte wie Chiara –, war vorläufig undenkbar. Sein einziger Sohn war in Wien durch die Autobombe eines Terroristen umgekommen und lag in Jerusalem auf dem Ölberg begraben. Seine erste Frau Leah hatte den Anschlag überlebt und lebte nun – in einem Gefängnis aus Erinnerungen und einem von Feuer verwüsteten Körper gefangen – in einer psychiatrischen Klinik auf dem Herzlberg. Gabriels Arbeit war schuld daran gewesen, dass seine engsten Angehörigen dieses Schicksal erlitten hatten. Er hatte sich geschworen, niemals ein weiteres Kind, das zur Zielscheibe seiner Feinde werden könnte, in die Welt zu setzen.
Er streifte seine Sandalen ab und ging barfuß über den Steinboden zum Schreibtisch hinüber. Auf dem Bildschirm seines Notebooks blinkte ihn ein Icon in Form eines Briefumschlags an. Die Nachricht war vor mehreren Stunden eingegangen. Gabriel hatte sein Möglichstes getan, sie zu ignorieren, denn er wusste, dass sie nur von einem Absender kommen konnte. Endlos lange durfte er sich jedoch auch nicht davor drücken, sie zu öffnen. Am besten brachte er die Sache rasch hinter sich. Als er das Icon widerstrebend anklickte, erschien auf dem Bildschirm eine Zeile mit wirrem Zeug. Sein im richtigen Feld eingegebenes Passwort ließ die Verschlüsselung wegschmelzen, sodass einige wenige Worte in Klartext übrig blieben:
M ALACHI BITTET UM T REFFEN . D RINGLICHKEIT RESCH .
Gabriel runzelte die Stirn. Malachi war der Deckname des Chefs der Operationsabteilung. Die Dringlichkeitsstufe Resch war für äußerst dringende Situationen reserviert, bei denen es meist um Leben oder Tod ging. Er zögerte, dann tippte er eine Antwort. Die Bestätigung ließ kaum neunzig Sekunden auf sich warten:
M ALACHI FREUT SICH DARAUF , S IE ZU SEHEN .
Gabriel schaltete seinen PC aus und schlüpfte unter die Decke des leeren Betts. Malachi freut sich darauf, Sie zu sehen … Das bezweifelte er, denn Malachi und er verstanden sich nicht besonders gut. Als er die Augen schloss, glaubte er, eine Hand nach einem geschmiedeten Nagel greifen zu sehen. Er tupfte mit einem Pinsel auf seine Palette und malte, bis er allmählich einschlief. Und selbst danach malte er weiter.
4 A MELIA , U MBRIEN
Eine Fahrt von der Villa dei Fiori zu der Hügelstadt Amelia bedeutet, Italien in all seiner alten Pracht zu sehen – und in all seinen modernen Nöten, dachte Gabriel betrübt. Er hatte einen Großteil seines Erwachsenenlebens in Italien verbracht und war Zeuge geworden, wie dieses Land sich langsam, aber methodisch selbst zugrunde richtete. Die Anzeichen des Niedergangs mehrten sich: überall Korruption und Unfähigkeit in Regierung und Verwaltung; eine Wirtschaft, die zu schwach war, um jungen Menschen genug Arbeit bieten zu können; einst herrliche Küsten, die durch Müll und Umweltgifte verpestet waren. Irgendwie entgingen diese Tatsachen der Aufmerksamkeit von Reiseschriftstellern in aller Welt, die weiter mit unzähligen Worten die Schönheiten und Vorzüge des italienischen Lebens rühmten.
Die Italiener selbst hatten auf diesen
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