Der Oligarch
ließ seinen Blick langsam über die Wände, über die Gesichter der Toten gleiten: Chaled al-Chalifa, Ahmed Bin Schafiq, Jusuf Ramadan … Es gab natürlich noch mehr – fast mehr, als er sich in Erinnerung rufen konnte. Sie alle waren Mörder gewesen, und jeder hatte die Todesstrafe verdient, die Gabriel an ihm vollstreckt hatte. Er hätte auch Iwan Charkow erledigen sollen. Jetzt hatte der Russe Chiara entführen lassen. Unabhängig davon, wie ihr Befreiungsversuch ausging, würde Charkow für den Rest seines Lebens ein Gejagter bleiben. Das galt ebenfalls für jeden, der auch nur als Nebenfigur mit der Entführung zu tun gehabt hatte. Gabriel würde sie alle aufspüren, so lange dies auch dauern mochte. Und er würde jeden Einzelnen von ihnen liquidieren.
Die Bestrafung der Schuldigen würde jedoch vorerst noch warten müssen. Im Augenblick kam es darauf an, Chiara zu finden. Sie würden ihre Suche damit beginnen, dass sie den Mann aufspürten, der ihre Entführung geplant und durchgeführt hatte. Den Mann, der sich Irina Bulganowa als Antolij, als ein Freund Wiktor Orlows, vorgestellt hatte. Den Mann, der vor Kurzem den größten Fehler seiner beruflichen Laufbahn begangen hatte. Gabriel pinnte sein körniges Porträt in die Galerie der Toten. Und dann erzählte er seinem Team eine Geschichte.
Nicht weit vom King Saul Boulevard entfernt steht ein Denkmal. Es ist den Männern und Frauen gewidmet, die im Geheimen gedient haben und gefallen sind. Es besteht aus glattem Sandstein und hat die Form eines Menschengehirns, weil die Gründer Israels glaubten, nur denkende Menschen könnten ihr kleines Land vor denen bewahren, die es vernichten wollten. In die Wände des Denkmals sind die Namen und Todestage der Gefallenen eingemeißelt. Nähere Einzelheiten über ihr Leben und ihren beruflichen Werdegang finden sich nur in Archiven. Über fünfhundert Mitarbeiter der israelischen Geheimdienste, davon fünfundsiebzig aus dem Dienst, sind hier verzeichnet. Demnächst würden zwei weitere hinzukommen – zwei gute Jungs, die gestorben waren, weil Gabriel sich bemüht hatte, ein Versprechen zu halten. Chiara Zolli, sagte er, werde nicht der dritte Name sein.
Die italienische Polizei fahndete gegenwärtig mit ungeheurem Aufwand nach ihr. Gabriel, der ruhig und emotionslos sprach, sagte voraus, dass alle Bemühungen der Italiener erfolglos bleiben würden. Chiara war sehr wahrscheinlich außer Landes geschafft worden, bevor die Suche nach ihr überhaupt begonnen hatte. Im Augenblick konnte sie überall sein. Sie konnte quer durch die Staaten des ehemaligen Ostblocks – durch das »nahe Ausland«, wie die Russen sagten – nach Osten unterwegs sein. Oder vielleicht war sie längst irgendwo in Russland. »Vielleicht ist sie aber auch nicht in Russland«, fügte Gabriel hinzu. »Iwan Charkow kontrolliert eine der größten Reedereien und das größte Luftfrachtunternehmen der Welt. Er hat die Möglichkeit, Chiara irgendwo auf der Welt zu verstecken. Er hat die Möglichkeit, sie von einem Ort zum anderen zu verfrachten, sie ständig in Bewegung zu halten.« Das bedeutete, dass Charkow einen unfairen Vorteil genoss. Aber auch sie waren nicht ganz machtlos. Der Russe hatte Chiara nicht entführen lassen, nur um sie zu ermorden. Charkow wollte garantiert etwas. Das gab ihnen Zeit und Raum, um selbst zu manövrieren. Nicht viel Zeit, sagte Gabriel. Und nur sehr wenig Spielraum.
Sie würden beginnen, indem sie versuchten, den Mann aufzuspüren, den Iwan Charkow als Werkzeug seiner Rache benutzt hatte. Vorläufig bestand er nur aus einigen Kohlestrichen auf einer ansonsten leeren Leinwand. Sie würden sein Porträt komplettieren. Er kam nicht aus dem Nichts. Er hatte einen Namen und eine Vergangenheit. Er hatte eine Familie. Er wohnte irgendwo. Er existierte. Alles wies auf einen ehemaligen KGB-Offizier hin, auf einen Mann, der darauf spezialisiert war, Leute aufzuspüren, die nicht gefunden werden wollten. Auf einen Mann, der Leute spurlos verschwinden lassen konnte. Und auf einen Mann, der jetzt für neureiche Russen wie Iwan Charkow arbeitete.
Ein solcher Mann existierte nicht in einem Vakuum. Potenzielle Auftraggeber mussten von ihm wissen, um seine Dienste in Anspruch nehmen zu können. Das Team würde jemanden aus ihren Reihen finden. Und es würde seine Suche dort beginnen, wo alles angefangen hatte: in einer russischen Großstadt, die unter dem Namen London bekannt war.
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Obwohl Gabriel es nicht sicher wissen
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