Der Oligarch
konnte, hatte er mit mindestens einer Sache recht: Chiara war nicht lange auf italienischem Boden geblieben. Tatsächlich war sie binnen weniger Stunden nach ihrer Entführung quer durch Italien in ein Fischerdorf in den Marken gefahren worden. Dort brachte man sie an Bord eines Fischerboots, das sofort mit ihr auslief – scheinbar zu nächtlichem Fischfang in der Adria. Während die Polizia di Stato an den Grenzübergängen Wache hielt, nahm man sie um 2.15 Uhr an Bord der Motorjacht Anastasia. Im Morgengrauen lag die Jacht bereits in einem verschlafenen Hafen in Montenegro, in der seit Kurzem unabhängigen jugoslawischen Teilrepublik, die mittlerweile Tausende von Exilrussen beherbergte und ein wichtiger Stützpunkt der russischen Mafia war. Aber auch in diesem Land sollte sie nicht lange bleiben. Am Spätvormittag, als Gabriels Maschine auf dem Flughafen Ben-Gurion landete, wurde sie auf einem Flugplatz am Rand der Hauptstadt Podgorica an Bord eines Frachtflugzeugs gebracht. Den Papieren nach gehörte das Flugzeug dem auf den Bahamas ansässigen Luftfrachtunternehmen LukoTrans. Nicht in den Papieren stand jedoch, dass LukoTrans eine Scheinfirma war, die in Wirklichkeit zu Iwan Charkows Imperium gehörte. Den montenegrinischen Zollbeamten wäre das allerdings egal gewesen. Damit sie weder das Flugzeug noch die Personen an Bord kontrollierten, waren sie mit einer Summe bestochen worden, die sich auf mehr als das Dreifache ihres staatlichen Monatsgehalts belief.
Chiara bekam nichts davon mit. Die letzte klare Erinnerung hatte sie an die albtraumhaften Ereignisse am Tor der Villa dei Fiori. Bei ihrer Ankunft war es schon dunkel gewesen. Chiara, die nach dem Unternehmen in Como erschöpft war, hatte auf der langen Autofahrt gedöst und war erst aufgewacht, als Lior vor dem Tor hielt. Es öffnete sich nur, wenn man den sechsstelligen Sicherheitscode eingab. Damit war Lior beschäftigt, als die Männer mit den schwarzen Sturmhauben unter den Bäumen hervorkamen. Ihre Waffen spuckten fast lautlos Tod und Verderben. Motti wurde zuerst getroffen, dann Lior. Als Chiara nach ihrer Beretta greifen wollte, ließ ein schwerer Schlag an die linke Kopfseite sie zusammensacken. Dann spürte sie einen Stich im rechten Oberschenkel. Sie bekam ein Beruhigungsmittel gespritzt, von dem ihr schwindlig wurde und das ihr sofort alle Kräfte raubte. Bevor sie bewusstlos wurde, sah sie noch das Gesicht einer Frau über sich. Wenn Sie sich anständig benehmen, lassen wir Sie vielleicht am Leben, sagte die Frau in stark russisch gefärbtem Englisch. Dann wurde das Gesicht der Unbekannten zu Wasser, und Chiara verlor wieder das Bewusstsein.
Jetzt trieb sie durch eine Welt, die teils Traum, teils Erinnerung war. Sie irrte stundenlang durch die Gassen ihrer Heimatstadt Venedig, wo Hochwasserfluten ihre Knie umspülten. In einer Kirche in Cannaregio fand sie Gabriel auf einer Arbeitsplattform sitzend und leise mit dem Heiligen Christopherus und dem Heiligen Hieronymus singend. Sie nahm ihn in ein Kanalhaus am alten jüdischen Getto mit, wo sie sich auf blutgetränkten Bettlaken liebten, während seine Frau Leah sie, in ihrem Rollstuhl sitzend, aus dem Schatten heraus beobachtete. Weitere Bilder zogen in einer langen Reihe an ihr vorbei, manche albtraumhaft entstellt, andere bis ins Detail korrekt. Sie erlebte nochmals jenen Tag, an dem Gabriel ihr erklärt hatte, er würde sie nie heiraten können. Und jenen Tag – keine zwei Jahre später –, an dem er ihre Überraschungshochzeit auf Schamrons Terrasse mit Blick auf den See Genezareth arrangiert hatte. Sie ging mit Gabriel im Schnee über den blutgetränkten Boden von Treblinka und kniete auf einer regennassen englischen Weide neben seinem zerschmetterten Körper und flehte ihn an, nicht zu sterben.
Zuletzt sah sie Gabriel von Mauern aus etruskischem Stein umgeben in einem Garten in Umbrien. Er spielte mit einem Kind – nicht mit dem Sohn, den er in Wien verloren hatte, sondern mit dem Kind, das Chiara ihm geschenkt hatte. Mit dem Kind, das sie jetzt unter dem Herzen trug. Es war sehr töricht gewesen, Gabriel zu belügen. Hätte sie ihm nur die Wahrheit gesagt, wäre er nie nach London gereist, um sein Grigorij Bulganow gegebenes Versprechen einzulösen. Und Chiara wäre jetzt nicht die Gefangene einer Russin. Einer Frau, die nun wieder mit einer Spritze in der Hand über ihr stand.
Sie hatte milchweiße Haut und durchscheinend blaue Augen, und sie schien Probleme zu haben, das
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