Der Oligarch
Erschöpfung gerötet.
»Du hast wohl nicht schlafen können?«
Gabriels Blick war Antwort genug.
»Du hast auch nichts gegessen. Du musst aber essen, Gabriel.«
»Ich esse, wenn ich sie wiederhabe.«
»Der Profi in mir möchte sagen, dass wir diesen Fall anderen Leuten überlassen sollten. Aber ich weiß, dass das nicht infrage kommt.« Schamron fasste Gabriel am Ellbogen. »Dein Team erwartet dich. Alle können es kaum erwarten, mit der Arbeit anzufangen. Wir haben viel zu tun – und nur sehr wenig Zeit.«
Als sie ins Freie traten, wurden sie von einem nasskalten Windstoß empfangen. Gabriel sah zum Himmel auf: weder Mond noch Sterne, nur bleigraue Wolken, die sich von der Küstenebene bis zu den Hügeln Judäas erstreckten. »In Jerusalem schneit es«, sagte Schamron. »Hier unten gibt’s nur Regen.« Er machte eine Pause. »Und Raketen. Letzte Nacht hat die Hamas aus dem Gazastreifen eine ihrer Langstreckenraketen abgeschossen. In Ashkelon gab es fünf Tote – eine ganze Familie wurde ausgerottet. Eine der Töchter war behindert. Offenbar haben sie es deshalb nicht rechtzeitig in den Luftschutzkeller geschafft.«
Schamrons Limousine parkte in dem eigens gesicherten VIP-Bereich. Rami stand mit grimmiger Miene und in die Hüfte gestemmten Fäusten an der offenen Wagentür. Als Gabriel hinten einstieg, drückte der Leibwächter ihm kurz den Arm, ohne jedoch ein Wort zu sagen. Wenig später raste der Wagen in strömendem Regen die Ringstraße um den Flughafen entlang. An ihrer T-förmigen Mündung wies ein blau-weißer Wegweiser in zwei Richtungen. Rechts lag Jerusalem, die Stadt der Gläubigen. Links lag Tel Aviv, die Stadt der Tat. Die Limousine bog links ab. Schamron zündete sich eine Zigarette an und informierte Gabriel über die neuesten Ereignisse.
»Schimon Pazner hat ein Büro in der Zentrale der Polizia di Stato bezogen. Dort verfolgt er die italienischen Fahndungsbemühungen und erstattet der Operationsabteilung regelmäßig Bericht.«
Pazner war der Stationschef in Rom. Gabriel und er waren im Lauf der Jahre manchmal beruflich aneinandergeraten, dennoch hätte er Pazner sein Leben anvertraut. Auch das Chiaras.
»Außerdem hat Schimon unter vier Augen mit den Direktoren beider italienischer Dienste gesprochen. Sie haben uns ihr Beileid ausgesprochen und zugesichert, alles zu tun, was in ihrer Macht steht, um uns zu helfen.«
»Hoffentlich hat er nicht erwähnt, dass ich kürzlich in Como war. Meine Vereinbarung mit den Italienern verbietet mir, auf italienischem Boden zu operieren.«
»Das hat er natürlich nicht getan. Aber an deiner Stelle würde ich mir wegen der Italiener keine grauen Haare wachsen lassen. Du kehrst nicht so schnell wieder dorthin zurück.«
»Wie haben wir die Tatsache erklärt, dass Chiara mit zwei Leibwächtern unterwegs war?«
»Er hat ihnen erzählt, bei uns seien verschiedene Drohungen gegen dich eingegangen. Einzelheiten hat er allerdings nicht genannt.«
»Wie haben die Italiener reagiert?«
»Sie waren – wie erwartet – etwas enttäuscht darüber, dass wir das nicht eher erwähnt hatten. Aber ihnen geht es vor allem darum, deine Frau aufzuspüren. Wir haben ihnen mitgeteilt, dass wir glauben, dass die Russen in diese Sache verwickelt sind. Der Name Iwan Charkow ist bisher allerdings nicht erwähnt worden. Noch nicht.«
»Wichtig ist, dass die Italiener die eigentlichen Hintergründe geheim halten.«
»Das tun sie. Die Welt soll unter keinen Umständen erfahren, dass du auf einem Landgut in Umbrien gelebt und Gemälde für den Papst restauriert hast. Polizia di Stato und Carabinieri glauben, die Entführte sei eine gewöhnliche Italienerin. Auf höherer Kommandoebene ist lediglich bekannt, dass Fragen der nationalen Sicherheit tangiert sein könnten. Nur die Chefs und ihre engsten Mitarbeiter kennen die Wahrheit.«
»Was haben sie bisher veranlasst?«
»Sie lassen die Umgebung der Villa durchkämmen und alle Häfen, Flughäfen und Grenzübergänge scharf überwachen. Natürlich können sie nicht sämtliche Schiffe und Fahrzeuge kontrollieren, aber sie führen Stichproben durch und filzen alles, was auch nur entfernt verdächtig aussieht. Das hat schon jetzt kilometerlange Staus an den Alpentunneln zur Folge.«
»Wissen sie bereits, wie das Unternehmen abgelaufen ist?«
Schamron schüttelte den Kopf. »Niemand hat etwas gesehen. Lior und Motti waren offenbar schon ein paar Stunden tot, als die Haushälterin sie gefunden hat. Wer sie umgelegt hat,
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