Der Oligarch
Gleichgewicht zu halten. Dies war kein Traum, auch keine Halluzination. In diesem Augenblick wurden Chiara und die Frau mitten auf der Adria von einer jähen Bö erfasst. Davon wusste Chiara allerdings nichts, sie bemerkte nur, dass die Frau nach vorn geworfen wurde, während sie ihr das Beruhigungsmittel injizierte, sodass sie Chiara die Nadel weitaus gewaltsamer hineinrammte als nötig. Chiara kehrte in den Garten in Umbrien zurück. Dort sagte Gabriel eben dem Kind Lebewohl. Es lief zu einem Sonnenblumenfeld, in dem es verschwand.
Chiara wachte unterwegs nur noch einmal auf- diesmal durch das Dröhnen eines Flugzeugs und den Gestank ihres eigenen Erbrochenen. Die Frau stand erneut über ihr, hatte wieder eine aufgezogene Spritze in der Hand. Chiara versprach, keinen Ärger zu machen, aber die Frau schüttelte den Kopf und injizierte ihr das Mittel. Als es zu wirken begann, rannte Chiara auf der Suche nach dem Kind verzweifelt durch das Sonnenblumenfeld. Dann sank die Nacht wie ein Vorhang herab, und sie weinte verzweifelt, ohne dass jemand sie zu trösten versuchte.
Als sie schließlich wieder zu Bewusstsein kam, spürte sie intensive Kälte. Im ersten Augenblick glaubte sie, dies sei eine weitere Halluzination. Dann merkte sie, dass sie irgendwie auf den Beinen und im Schnee unterwegs war. Sie trug Handschellen, die mit Packband um ihre Taille befestigt waren, und Fußfesseln mit einer kurzen Kette, die nur Trippelschritte zuließ. Die beiden Männer, die sie an den Armen festhielten, schien das nicht zu stören. Sie hatten anscheinend reichlich Zeit. Das galt auch für die Frau mit der milchweißen Haut.
Sie ging einige Schritte vor ihnen auf ein von Birken umgebenes kleines Blockhaus zu. Davor standen zwei Mercedes-Limousinen. Ihr niedriges Profil verriet, dass sie gepanzert waren und schussfeste Scheiben hatten. An einem der Wagen lehnte ein Mann: schwarzer Ledermantel, silbergraue Mähne, ein Kopf wie der Turm eines Panzers. Chiara hatte ihn noch nie in Person, aber schon oft auf Überwachungsfotos gesehen. In der eisigen Luft umgab ihn sein starkes Rasierwasser mit einer duftenden Wolke. Sandelholz und Rauch. Der Geruch von Macht. Der Gestank des Teufels.
Der Teufel lächelte verführerisch und berührte ihre Wange. Chiara schrak zurück, musste sich fast übergeben. Auf Befehl des Teufels führten die beiden Männer sie in das Blockhaus und dort eine schmale hölzerne Kellertreppe hinab. Unten machten sie vor einer schweren Eisentür mit einem gewaltigen Querriegel Halt. Dahinter lag ein trüb beleuchteter kleiner Raum mit Betonboden und weiß getünchten Wänden. Die Männer stießen sie hinein und knallten die Tür zu. Chiara blieb unbeweglich liegen, weinte leise und zitterte in der schrecklichen Kälte. Sekunden später, als sich ihre Augen an das Halbdunkel gewöhnt hatten, bemerkte sie, dass sie nicht allein war. In einer Ecke hockte ein an Händen und Füßen gefesselter Mann. Trotz des trüben Lichts sah Chiara, dass er sich seit vielen Tagen nicht mehr rasiert hatte. Sie konnte auch sehen, dass er misshandelt worden war.
»Es tut mir so leid, Sie zu sehen«, sagte er leise. »Sie müssen Gabriels Frau sein.«
»Wer sind Sie?«
»Ich bin Grigorij Bulganow. Aber kein Wort mehr! Charkow belauscht uns.«
39 K ING S AUL B OULEVARD , T EL A VIV
Der Dienst war stolz auf seine Fähigkeit, in Krisenzeiten schnell reagieren zu können, aber sogar kampferprobte Veteranen würden später verwundert die Köpfe schütteln, wenn sie darüber sprachen, wie blitzschnell Gabriels Team in Aktion getreten war. Seine Leute nötigten die Analysten der Forschungsabteilung, ihre Unterlagen erneut durchzusehen, und setzten der Beschaffungsabteilung zu, ihre Informanten nochmals auszuquetschen. Sie kassierten bei der Finanzabteilung eine Viertelmillion Euro ein und warnten die Hausverwaltung, sichere Wohnungen könnten mit geringer oder gar keiner Vorwarnung angefordert werden. Und zuletzt verteilten sie über ganz Europa so viele Waffen und so viel elektronisches Equipment, dass man damit einen kleinen Krieg hätte anfangen können. Aber genau das hatten sie schließlich vor.
Glücklicherweise würde Gabriel nicht allein in den Krieg ziehen. Er hatte zwei mächtige Verbündete mit großem Einfluss und globaler Reichweite, einen in Washington, den anderen in London. Von Adrian Carter lieh er sich eine einzige Agentin aus, die vor Kurzem vorübergehend nach Europa entsandt worden war. Graham Seymour bat er nur
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