Der Oligarch
um einen nächtlichen Lauschangriff. Die Zielperson würde ein Mann sein, der gern damit prahlte, er wisse mehr über alles, was in Russland passiere, als der russische Präsident selbst. Seymour würde das Personal und die Logistik stellen, und Olga Suchowa würde als die scharfe Schwertspitze dieses Unternehmens fungieren.
Das war die Rolle, die lange für Schamron reserviert gewesen war. Dem blieb jetzt nichts anderes zu tun, als sorgenvoll auf den Fluren auf und ab zu marschieren und allen zur Last zu fallen. Er sah den einen über die Schulter, flüsterte den anderen etwas ins Ohr und zog Uzi und Gabriel mehrmals zu sich auf den Flur hinaus, um ihnen seinen dicken Zeigefinger auf die Brust zu stupsen. Immer wieder bekam er dieselbe Antwort zu hören: Ja, Ari, das wissen wir. Daran haben wir gedacht. Und das hatten sie wirklich. Weil Schamron sie ausgebildet hatte. Weil sie die Besten der Besten waren. Weil sie praktisch seine Söhne waren. Und weil sie ihre Arbeit längst ohne die Hilfe des Alten machten.
Und so brachte er einen Großteil dieses schlimmen Tages damit zu, am King Saul Boulevard durch die oberen Stockwerke zu tigern, den Kopf in Büros zu stecken, alte Freundschaften zu erneuern und mit alten Konkurrenten Frieden zu schließen. Die überall herrschende gedrückte Stimmung erinnerte Schamron zu sehr an Wien. Um etwas zu tun zu haben, holte er Amos’ Erlaubnis ein, zum Flughafen Ben-Gurion hinauszufahren und die Leichen von Lior und Motti in Empfang zu nehmen. Sie kehrten heimlich heim, genau so, wie sie Israel gedient hatten, und wurden nur von Schamron und ihren Eltern empfangen. Der Alte ließ zu, dass sich diese an seiner berühmten Schulter ausweinten, konnte ihnen aber auch nichts über die näheren Umstände des Todes ihrer Söhne sagen. Das war ein zutiefst erschütterndes Erlebnis, nach dem er ungewöhnlich deprimiert an den King Saul Boulevard zurückkehrte. Seine Stimmung besserte sich etwas, als er Raum 456C betrat, wo Gabriels Team eifrig arbeitete. Gabriel war jedoch nicht da. Er war unterwegs nach Jerusalem, der Stadt der Gläubigen.
Es schneite gleichmäßig, als Gabriel vor der psychiatrischen Klinik auf dem Herzlberg parkte. Am Eingang verkündete ein Schild, dass die Besuchszeit vorüber war; Gabriel ignorierte es und ging trotzdem hinein. Seine Vereinbarung mit der Klinikleitung gestattete ihm, Leah zu besuchen, wann immer er wollte. Tatsächlich kam er nur selten, wenn die Freunde und Angehörigen anderer Patienten da waren. Israel, ein Land mit nur etwas über fünf Millionen Einwohnern, glich in vielerlei Hinsicht einer Großfamilie. Sogar Gabriel, der derart zurückgezogen lebte, konnte kaum irgendwohin gehen, ohne alten Bekannten aus der Kunstakademie oder Kameraden aus der Armee zu begegnen.
Leahs Arzt erwartete ihn im Foyer. Während sie auf einem stillen Korridor unterwegs waren, unterrichtete Dr. Ben-Zvi, ein rundlicher Mann mit Rabbinerbart, Gabriel über Leahs Zustand. Gabriel war nicht überrascht, als er hörte, dass sich dieser seit seinem letzten Besuch kaum verändert hatte. Leah litt an einer besonders akuten Kombination aus einer psychotischen Depression und einem posttraumatischen Stress-Symptom. Der Bombenanschlag in Wien lief unaufhörlich, in einer Endlosschleife vor ihrem inneren Auge ab. Gelegentlich hatte sie lichte Augenblicke, aber die meiste Zeit lebte sie ausschließlich in der Vergangenheit: gefangen in einem nicht mehr funktionierenden Körper, unter Gewissensbissen leidend, weil sie es nicht geschafft hatte, ihrem Sohn das Leben zu retten.
»Erkennt sie irgendwen?«
»Nur Gilah Schamron. Die kommt ein Mal pro Woche. Manchmal häufiger.«
»Wo ist sie jetzt?«
»Im Aufenthaltsraum. Wir haben ihn gesperrt, damit Sie ungestört mit ihr zusammen sein können.«
Sie saß in ihrem Rollstuhl am Fenster und starrte blicklos in den Park hinaus, wo der Schnee allmählich die Zweige der Olivenbäume bedeckte. Ihr einst langes schwarzes Haar war kurz geschnitten und ergraut. Ihre von Brandwunden entstellten und verkrümmten Narbenhände ruhten gefaltet in ihrem Schoß. Als Gabriel sich neben sie setzte, schien sie ihn nicht wahrzunehmen. Dann wandte sie ihm langsam das Gesicht zu und in ihrem Blick blitzte ein Funke des Erkennens auf.
»Bist du es wirklich, Gabriel?«
»Ja, Leah, ich bin’s.«
»Sie haben gesagt, dass du vielleicht kommen würdest. Ich hatte Angst, du hättest mich vergessen.«
»Nein, Leah. Ich habe dich nie vergessen.
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