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Der Olivenhain

Der Olivenhain

Titel: Der Olivenhain Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Courtney Miller Santo
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Dorfgeschichte brauchte Anna weder die Bücher noch Mims’ und Percys Erzählungen, denn diesen Teil hatte sie selbst miterlebt. Ihre erste klare Erinnerung – eine, die nicht nur aus verschwommenen Wahrnehmungen oder Gefühlen bestand – war die an den Umzug von Kidron. Dieser Tag im Herbst 1900 war für sie ein ganz besonderer Tag. Irgendwo tief in ihrem Inneren verborgen schwirrten zwar noch Bilder aus Brisbane herum, Bilder einer Frau mit einer Sackschürze, die sie nicht kannte; eine Schildkröte, groß wie ein Tisch, und ihr Vater mit einem Korb praller, schwarzer Oliven. Manchmal wünschte sie, die Bilder würden sich zu einem Film zusammenfügen und ihr die ganze Wahrheit erzählen, aber sie blieben unscharf und starr. Doch der Tag, an dem das Dorf Kidron um eine Meile versetzt wurde, war wirklich filmreif und, anders als die Geschichte ihres Vaters, der die Oliven nach Kidron gebracht hatte, lebte sie in Anna weiter.
    Am Tag des Umzugs hatten die Kinder schulfrei und wurden ermahnt, nicht im Weg herumzustehen. Ältere Jungs wie Wealthy durften ihren Vätern helfen, sie hielten die Zügel der Pferde oder vertäuten Seile. Anna erbot sich, auf ihre Mutter aufzupassen, die im fünften Monat schwanger war. Alle hofften, dass sie das Kind gesund zur Welt bringen würde, aber nachdem die Hebamme sie untersucht hatte, verordnete sie ihr strikte Bettruhe. Pflegedienste waren nicht Annas Stärke, daher schickte die Mutter sie bald ins Dorf, damit sie auf den Vater und Bruder aufpasste. »Wir wären verloren ohne sie!«, rief ihr Mims damals nach.
    Allerdings blühte Mims, wie Anna ihre Mutter nannte, erst auf, als die Männer aus ihrem Leben verschwunden waren. Klein und drall wie sie war, mit ihrem schmalen Gesicht, glich sie einer Maus. Als Mims im Alter an Gewicht zunahm, wurde auch ihr Gesicht runder, und am Schluss sah sie aus wie das wandelnde Bild der lieben Sonne in ei nem Kinderbuch. Annas Kinder kannten Mims nur so, doch an jenem Tag im Herbst 1900 war Mims’ Gesicht eingefallen und hager vor Sorge um das Baby, den Olivenhain und die Zukunft der Maywood-Kolonie.
    Ein heißer Wind fegte von der Wüste her durch Kidron und trieb feinen Sand vor sich her. Auch nach zwei Jahren fühlte sich Anna noch nicht heimisch, und dieses Gefühl teilte sie anscheinend mit der Mehrheit der Dorfbewohner. Erst kürzlich hatte sie gehört, wie ihr Vater dem Besitzer des Dorfladens erzählte, dass er jeden Morgen aufs Neue mit dem Gefühl aufwachte, in einer fremden Welt zu sein. Damals waren die Menschen noch nicht im Tal verwurzelt, die meisten lebten erst seit ein oder zwei Generationen dort. Heute war die Stadt bevölkert von den Enkeln und Urenkeln der Männer, die damals im Laden gestanden und beteuert hatten, dass der Wind bei ihnen zu Hause anders wehte als hier.
    Der Dorfladen war ein breites Gebäude mit vielen Anbauten. Der sechsjährigen Anna war es nie alt vorgekommen, doch in letzter Zeit kroch langsam eine Ahnung in ihr hoch, dass die Welt schon existiert hatte, bevor sie geboren wurde. Während sie die Pferde mit Karotten fütterte und die Männer bei der Vorbereitung des Umzugs beobachtete, überlegte sie, was wohl schon alles vor ihr da gewesen war.
    Man hatte beschlossen, dass der Saloon und das, was ihr Vater das »Frauenhaus« nannte, nicht mehr ins neue Stadtbild passten und daher an ihrem alten Ort an der Main Street verbleiben sollten. Als Annas Tochter Bets Jahre später heiratete, zogen die Frischvermählten in ein Haus an der alten Hauptstraße, und bei ihrem ersten Besuch war Anna überrascht, dass beide Gebäude noch existierten. Das Frauenhaus, natürlich ein Bordell, gehörte nun zwei schrulligen Brüdern, die im Winter Zimmer an Landstreicher vermieteten. Der einstige Saloon war zu einem Restaurant umgebaut worden, das die Geschichte des Hauses vermarktete. Die Besitzer hatten dafür extra Schwingtüren einbauen lassen, wie man sie aus Wildwestfilmen mit John Wayne kannte, obwohl der Saloon nie solche Türen gehabt hatte. »Total unpraktisch«, sagte Anna immer zu Bets, »die taugen doch bloß was, wenn’s eine Schießerei gibt. Und das kam nie vor.«
    Am Umzugstag wurde auf beide Gebäude ein dickes schwarzes X gemalt. Anna schlich bei den Pferden herum, die die Gebäude wegziehen sollten. Sie hielt inne, als sie hörte, wie der Metzger ihrem Vater und ein paar Umstehenden von einem Außenposten in Iowa berichtete, den man auch hatte umsetzen wollen. »Die verdammten Idioten haben die

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