Der Olivenhain
grünen Blätterdach schien noch Sommer zu sein. Die Früchte hatten gerade erst begonnen, sich violett zu verfärben. Sie hob die Hand, umschloss einen Zweig mit den Fingern und streifte gegen die Wuchsrichtung am Ast entlang. Das Rascheln der Blätter und das Pollern der in den Korb fallenden Früchte erinnerte sie an die Stimme ihres Vaters, der so viele Geschichten auf Lager gehabt hatte, wie es Sterne am Himmel gab. Und jede einzelne begann und endete bei den Olivenbäumen.
3.
Kidron
A n na hatte ihren Vater geliebt, aber richtig gemocht hatte sie ihn nie. Sie ging davon aus, dass es den meisten Menschen einem Elternteil oder den Geschwistern gegenüber so ging. Es war nicht Gottes Art, Menschen zusammenzubringen, die sich gern hatten, denn das Leben war schließlich eine einzige große Prüfung: Konnte man den Jammerlappen von Bruder, der dauernd krank war, lieben? Die wohlmeinende, aber etwas unbedarfte Mutter? Liebte man den Vater, obwohl er hart wie Stahl war? Anna hatte ihren Kindern immer gesagt, dass kein Gebot Gottes forderte, den Nächsten gut leiden zu können. Sie selbst hatte im Lauf ihres Lebens gelernt, Menschen zu lieben, ohne viel Sympathie für sie zu empfinden.
Unter dem unergründlichen Blick des Vaters hatte Anna auch noch etwas anderes gelernt, nämlich nie mit sich selbst zufrieden zu sein. Dieses Gefühl der Unzulänglichkeit hatte ihren älteren Bruder Wealthy aus der Heimat vertrieben und Anna zeitlebens in Kidron gehalten. Sie staunte oft, wie gegensätzlich Menschen auf dieselben Umstände reagierten. Aber man wird so geboren, wie man ist, dachte Anna, denn sie wusste aus Erfahrung, dass die Erziehung von Kindern nicht bedeutete, sie wie Lehmfiguren zu formen, sondern eher dem Versuch glich, einen Granitblock mit einem Buttermesser zu bearbeiten. Ihr eigener Vater hatte nie versucht, sie zu ändern, er wirkte nur irgendwie enttäuscht, weil aus ihnen nicht das geworden war, was er erwartet hatte. Etwa eine Woche nach seinem Tod fand Anna in seiner Bibel einen Zettel, der ihr diesen Eindruck bestätigte. In seiner stark geneigten Handschrift hatte er oben »Lebensleistungen des Percival Keenan Davison« hingeschrieben, danach folgte eine Aufzählung:
1.Brachte die Oliven nach Kalifornien
2.Wurde zweifacher Meister im Boxringkampf von County Meath
3.Entdeckte den fünftgrößten Goldklumpen, der je in Australien gefunden wurde
4.Verlegte Kidron an seinen heutigen Standort
5. Ist der Vater von Wealthy Davison und Anna Davison Keller
6.Flog in einem Flugzeug
Ob er seine Kinder von der Liste gestrichen hatte, weil er Kinder generell nicht als dokumentationswürdige Leistung betrachtete, oder ob er sie nachträglich durchgestrichen hatte, weil das, was letztlich aus ihnen geworden war, weniger bedeutete als eine Runde im Doppeldecker, wusste Anna nicht.
Was sie allerdings wusste, war, dass manche Details auf der Liste nicht der Wahrheit entsprachen. Es waren nämlich die Spanier gewesen, die die ersten Olivenbäume in die Neue Welt gebracht hatten. Als sie Kalifornien eroberten, legten sie in jeder neuen Missionsstation Olivenhaine an, um das für Segnungen und Salbungen benötigte Öl zu gewinnen. Aber Olivenbäume brauchten wie die meisten Religionen regelmäßige Zuwendung, und nachdem die Spanier besiegt waren, verwilderten und verödeten die zurückgelassenen Plantagen. Percy setzte erst ein halbes Jahrhundert später Fuß auf kalifornischen Boden, daher konnte er höchstens behaupten, der Erste gewesen zu sein, der den Olivenanbau wieder aufleben ließ.
Annas Mutter Mims hatte immer behauptet, dass der Goldklumpen so groß gewesen war, dass man ihn kaum mit zwei Händen fassen konnte. Percys Schürfkompagnons hatten ihn jedoch über den Tisch gezogen, und so verließen Annas Eltern Australien mit gerade mal genug Geld, um in Kalifornien neu anzufangen. Als sie aus Brisbane fortgingen, war Anna vier Jahre alt, und damals verstand sie nicht, warum sie in ein anderes Land zogen. Sie wusste nur, dass der Umzug irgendwie mit Wealthys Asthma zusammenhing.
Die Menschen in Kidron erzählten sich einige Geschichten über Percy, die sich in mancherlei Hinsicht von dem unterschieden, was Anna über ihren Vater wusste. Wäre er nicht so wortkarg gewesen, stünde vielleicht mehr über ihn in den Geschichtsbüchern. Von den vielen Gerüchten stimmte letztlich nur die Geschichte von seiner Ankunft im Sacramento Valley. 1898 kam die Familie Davison in San Francisco an. Nachdem er
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