Der Olivenhain
Armatur.«
»Darum geht’s doch nicht. Mum denkt, du bist wieder einmal auf meiner Seite.« Callie blickte den Flur entlang, um sicherzugehen, dass Erins Zimmertür noch geschlossen war.
»Ich stehe auf keiner Seite.« Anna nahm die Hand ihrer Enkelin. »Es hat nie zwei Seiten gegeben, alles ist ein unaufhörlicher Kreislauf ohne Anfang und Ende.«
»Wenn sie zurückkommt, will ich nicht mehr hier sitzen«, sagte Callie.
Sie klang bockig, wie damals als Jugendliche, als ihr Teint noch frisch und von der Sonne gebräunt war und widerspenstige Locken ihr hübsches Gesicht rahmten. Schon als kleines Kind war sie dauernd weggerannt von zu Hause, von Bets und Hill House, weil sie sich beengt fühlte. Alles, was sie tat, war durchdrungen von dem Wunsch, Kidron zu entfliehen. Callie dachte damals, die große weite Welt warte nur auf sie.
»Komm mit in den Hain, ich will noch einen Korb Oliven sammeln für das Öl heute Mittag«, schlug Anna vor. Im Olivenhain beruhigten sich die Gemüter meistens wieder.
Callie rieb ihr Bein durch den dicken Jeansstoff. »Mehr als ein paar Schritte kann ich bei den Schmerzen nicht gehen. Ich kümmere mich ums Essen, ich muss mir dringend eine weitere Gemüsebeilage einfallen lassen. Erin isst garantiert kein Stück von dem schönen Schweinebraten.«
Anna stand auf und dankte Gott, dass ihr eigener Körper noch so gut in Schuss war und sie keine Probleme beim Gehen hatte. Müßiggang war nie ihre Sache gewesen, was nicht heißen sollte, dass ihre Enkelin durch die Geschichte mit dem Bein faul geworden wäre. Aber sie erlaubte ihr, sich in die Küche oder Vorratskammer zu verziehen und nur die Arbeiten zu verrichten, die ihr lagen. Anna zog einen dicken Pullover aus dem Schrank, griff nach dem Korb und ging durch die Hintertür hinunter zur Plantage. Seit Erins Ankunft schien es kühler geworden zu sein.
Alles war in Unordnung geraten, und das kurz bevor der Genforscher eintreffen sollte. Anna überlegte, welcher Typ Mann der Doktor sein mochte, und ob er die schlechte Stimmung bemerken würde. Für gewöhnlich hatten Männer nicht die Intuition der Frauen.
Vom Fuße des Hügels aus blickte sie zurück zum Haus. Es war Stück um Stück erweitert worden. Je größer und reicher die Familie geworden war, desto mehr Anbauten folgten. Wie so viele Häuser in Sacramento Valley war es im Stil der einstigen Missionsstationen erbaut, die die Spanier nach ihrer Niederlage fluchtartig verlassen hatten. Es war einstöckig mit einem Dach aus Lehm und Wänden aus Gips. Von der Hinterseite aus konnte man die beiden rechtwinklig angebauten Flügel gut erkennen. Die Küche, in der lange Zeit die Oliven verarbeitet worden waren, nahm fast den gesamten Nordflügel ein. Der südliche Flügel war etwas länger, in ihm befanden sich drei weitere Zimmer und ein Bad, während im Hauptgebäude das große, frisch renovierte elterliche Schlafzimmer, das Wohnzimmer, ein Esszimmer und die Bibliothek untergebracht waren.
Hill House, Annas Zuhause, war von ihrem Vater Percy Davison erbaut worden. Im Lauf ihres langen Lebens hatte sie sich immer wieder gefragt, wie es einem Mann gelungen war, ein Haus zu konstruieren, das den weiblichen Bedürfnissen so mustergültig entsprach. Als sie damals aus dem provisorischen Zelt am Rande des noch jungen Olivenhains umzogen, nachdem sie lange darauf gewartet hatten, dass er endlich genug abwarf, um die Schulden bei der Bank zu begleichen, verkündete ihr Vater feierlich, dass dort oben ein Tempel auf sie wartete.
Hill House war nicht das älteste Gebäude der Stadt, doch weil es so exponiert auf einem Hügel lag und der Olivenhain seit Generationen in Familienhand war, war es zu einer Touristenattraktion geworden. Das hatte sich die örtliche Behörde ausgedacht, die auch einen Prospekt herausgab, der nun bei Anna am Kühlschrank hing. Darin stand, Hill House sei Kidrons Antwort auf das pittoreske Hearst Castle in San Simeon. Natürlich war Hill House nicht annähernd so groß wie das Schloss in San Simeon, doch Anna stimmte dem Vergleich trotzdem gerne zu. Allerdings sprach sie mit niemandem darüber, denn sie fürchtete insgeheim, dass ihre Wirklichkeit und das Bild, das die Welt sich von Kidron und ihrem Haus machte, nicht übereinstimmen könnten.
Je näher sie dem Hain kam, desto jünger fühlte sie sich. Die niedrigen Bäume überragten sie nur um wenige Zentimeter. Sie roch den leichten Moschusgeruch der Erde. Es war zwar Herbst geworden, doch unter dem silbrig
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