Der Olivenhain
die Zeitstränge in ihrem Bewusstsein, und zuweilen schienen ihr ihre Eltern so lebendig, als wären sie erst gestern gestorben, dabei war es schon über siebzig Jahre her. Sie wusste, dass ihr Gehirn alle Lebenserfahrungen speicherte und plötzlich Erinnerungen freisetzen konnte, die schon jahrzehntelang verschüttet gewesen waren.
Nun also kitzelte sie der altbekannte Geruch von Baumwollflanell in der Nase, und aus der Ferne hörte sie ein Kichern. Diese Erinnerungsspur führte weit in die Vergangenheit zurück, Anna konnte kaum älter als zehn gewesen sein. Mit ihrem Bruder Wealthy sammelte sie damals Oliven von den grauen Wolltüchern, die unter den Bäumen auf der taunassen Erde ausgelegt waren. Die guten Oliven kamen in den einen Korb, die bereits aufgeplatzten oder runzligen Früchte in einen anderen.
Nachdem sie eine Weile brav ihre Pflicht erfüllt hatten, setzten sie sich im Schneidersitz auf die Decke und spielten Fingerklatschen. Anna war viel langsamer als ihr Bruder, und ihre Handflächen waren schon ganz rot, weil er sie immer wieder erwischte. Ihre Hände schwebten direkt über seinen, und sie lauerte auf die geringste Bewegung von Wealthy. Sie wollte unbedingt gewinnen, wollte seine Hände schlagen. Keiner von beiden bemerkte den Vater, der sie mit zusammengekniffenen Augen im Schatten eines Olivenbaums beobachtete.
Er war ein großer, stattlicher Mann. Anna dachte oft, wenn man seine Haut abschälte wie eine aufgeplatzte Baumrinde, käme darunter bestimmt grünes Holz zum Vorschein. Seine Schläge waren wie die einer biegsamen Gerte, denn sie federten leicht zurück. Er schlug Wealthy mit der flachen Hand aufs Ohr und schalt sie erbost wegen der vertanen Zeit. Anna erkannte ihre Chance, schlug dem Bruder auf die Hand und rannte schnell weg. Sie erinnerte sich, wie sie sich noch einmal umdrehte und die beiden mit offenem Mund dastehen sah, zuerst wütend, dann belustigt, bevor sie stolperte und hinfiel.
Es war nur eine kleine Platzwunde, die rasch heilte und keine Narben hinterließ. Doch sie blutete, als wäre eine Schlagader getroffen worden. »Wunden am Kopf sind nie gut«, sagte ihr Vater und besah sich den Riss über ihrem linken Auge. Mit einem Taschentuch tupfte er das Blut ab und befahl Wealthy, Spinnweben zu sammeln. Als er wiederkam, hielt er einen pappigen, länglichen Wulst aus Fäden in der geschlossenen Faust. Behutsam zupften sie kleine Stückchen ab und klebten sie auf die offene Wunde, bis die Blutung gestillt war.
Am Rande des Hains blieb Anna stehen und fluchte. Trotz des ersten Dämmerlichts war es noch nicht hell genug unter den Bäumen, deren dichte Blätter selbst in der Mittagssonne viel Licht verschluckten und den Hain in ein schattiges Halbdunkel tauchten. Zu dumm . Eigentlich hätte sie es wissen müssen. Sie hasste es, wenn sie sich dumm vorkam, erst recht durch ihre eigenen Fehler. Verstimmt strich sie über ihre linke Braue, glättete die Falten, und tastete die Stelle mit den Fingerspitzen ab. Nichts . Keine Kerbe, nicht die kleinste Unregelmäßigkeit, die ihre Erinnerung bezeugen konnte. Doch sie war sicher, dass es so gewesen war.
Das Violett des Himmels verfärbte sich langsam zu Blau. Vorsichtig schritt sie den Rand des Hains ab, wo sie die am Boden liegenden Früchte bereits schemenhaft erkennen konnte. Mit der Hand ertastete sie die übrig gebliebenen Oliven an den Zweigen und konnte auf Anhieb sagen, ob sie genug Öl hergeben würden.
Das Wunder der Spinnweben war eine neue Geschichte, sie musste ihrer Tochter, ihrer Enkelin, und allen, die ihr zuhören würden, unbedingt davon erzählen. Es machte Anna Sorgen, dass die Generationen nach ihr so vieles nicht wussten. Sie musste jemanden finden, der ihr zuhörte, und zwar wirklich zuhörte. Die Menschen hassten alte Leute. Selbst in ihrer eigenen Familie dachten alle, sie hätten längst alles von Anna gelernt. Sie wurde nicht mehr um Rat gefragt und konnte keine Geschichte anfangen, ohne dass ihre Tochter oder ihre Enkelin ihr ins Wort fiel und sie zu Ende erzählte. Sie hatten ja keine Ahnung, was alles noch überliefert werden musste. Es würde ein ganzes Leben dauern, bis sie ihnen alle ihre Geheimnisse erzählt hätte, und zwei Menschenleben hatte sie schon hinter sich.
Über den Bergkuppen in der Ferne ging die Sonne auf, als Anna zwischen die Bäume trat.
»Mama!«, rief ihre Tochter.
»Grandma!«, hallte die hohe, dünne Stimme ihrer Enkelin wie ein Echo nach.
Die Rufe wurden dringlicher, sie
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