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Der Opal

Der Opal

Titel: Der Opal Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Marcus Hammerschmitt
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seit Jahren getan hatte, und presste ihr flink ein Taschentuch aufs Gesicht, das er vorher in seiner Handfläche verborgen hatte. Latil erinnerte sich nur noch an sein bartbekränztes Lächeln. Sie hatte keinen direkt moralischen Standpunkt zu ihrer so genannten Kindheit, allerdings taten ihre Hände immer weh, wenn sie daran dachte; beim Gedanken an die Vergiftung schienen sie zu brennen. Auf perverse Art in Ordnung war dagegen die Erinnerung an ihr Aufwachen in der Wabe. Vielleicht hatte ihre Intuition ihr dabei geholfen zu erkennen, was Sache war, als sie zum ersten Mal nach der Vergiftung die Augen aufgeschlagen und die zerkratzte graue Wand der Ruhewabe vor sich gesehen hatte. Dieser erste Moment hatte ihr in der ganzen nur wünschbaren Deutlichkeit klar gemacht, dass sie verloren war. Sie wusste noch nicht, dass sie sich gerade an Bord eines schnellen Clan-Schiffs auf dem Weg nach Altamira befand, während ein quer durchs Universum tunnelnder Mikrowellenstrahl die Bezahlung für sie, ihren Kaufpreis, zum Hort zurücktransportierte. Aber sie wusste beim ersten Anblick der grauen zerkratzten Fläche, einen halben Meter von ihrem Kopf entfernt, dass sie verraten worden war. Verraten und verkauft. Endlich war das große Rätsel ihrer Kindheit gelöst. Die Gewalt, die die Erwachsenen immer geleugnet hatten, war hier mit Händen zu greifen. Sie war Fleisch und sie hoffte, was alle Gefangenen hoffen: dass es noch nicht gleich zu Ende ist. Es kam dann weniger schlimm und schlimmer zugleich. Sie erinnerte sich in der Psychose oft an ihre frühe Zeit, und ihre Hände brannten. Spindel und Hort, Kratzer und Splitter.
     
    Latil betrachtete die Knöchel ihrer rechten Hand. Sie erinnerte sich genau daran, sie vor der Psychose zuerst an einem Sandsack im Trainingsraum zerschlagen und dann auch noch, zu Beginn der Psychose, mit ihren Zähnen zernagt zu haben; sie erinnerte sich genau. Jetzt war nichts mehr zu sehen. Keine Narben, keine Wunden, nichts. So gut verheilten relativ tiefe Fleischwunden, wie die, die sie sich selbst beigebracht hatte, beim derzeitigen Stand der Medizin in etwa zehn Tagen. Erstens konnte man in zehn Normaltagen viel weiter als bis zum Opal tunneln. Zweitens hatte die Psychose noch nie zehn Tage gedauert. Der Freund belehrte sie gerade über den Opal.
    »…Die Taan waren sich von vornherein bewusst, dass nicht jeder ihr Experiment verstehen würde. Sie stellten sich sogar auf einen Krieg zur Verteidigung des Experiments ein, und die Überreste dieser Militanz sind heute noch bemerkbar. Tatsache ist, dass sich niemand groß um das Experiment kümmerte, weil man es einfach nicht ernst nahm. Einen Hohlraum von der Größe eines mittleren Sonnensystems mit atembarer Luft füllen? Aus ästhetischen Gründen? Man kann es sich ja nicht einmal heute richtig vorstellen, eintausend Jahre später. Und doch ist es genau das, was die Taan wollten und was sie gegen alle Widerstände schließlich durchsetzten. Als der Opal, wie die Taan ihr Sonnensystem nannten, fertig war, lachte niemand mehr.«
    Spinner, dachte Latil. Idioten.
    »Die Taan«, erklärte das Lexikon weiter, »leben von Schall. Es gibt für sie nichts Wichtigeres. Sie haben ihre Körper verändert, damit sie dieser Leidenschaft entsprechen. Sie sehen nicht sehr kräftig aus, aber sie haben mächtige Stimmen, ihre ganze Kultur ist auf Schall aufgebaut. Die Taan können ihre Körper als Verstärker oder als Dämpfer einsetzen, sie können Infraschall erzeugen, sie können psychogenen Schall erzeugen, sie können kurzfristig durch Schwingungen ihres ganzen Körpers Schall erzeugen. Sie beherrschen Sonar auf einer Ebene weit oberhalb der Delfine. Wenn ein Taa etwas flüstert, kann eine Kette von stumm dastehenden Taan das Flüstern so verstärken, dass es am Ende der Kette als Gebrüll wahrgenommen wird.«
    Latil war endlos gelangweilt. Ich hätte das Lexikon nicht kaufen sollen, dachte sie wieder einmal. Sie betrachtete ihre Knöchel. Wo sind meine Wunden?
    »Gesang. Das ist das Thema ihrer Kultur. Ihre einzigartige soziale Architektur beruht ökonomisch gesehen auf der Tatsache, dass sie singen, ganz wortwörtlich. Die großen Schiffe, die die Städte auf den bewohnten Planeten versorgen, müssen herbeigesungen werden. Sie gehorchen nur den besten Liedern. Das Herbeisingen der Schiffe ist Industrie und Sport, Arbeit, Kunst und Vergnügen in einem. Die besten Sänger, die die meiste Tonnage einbringen, genießen das höchste Ansehen in der Gesellschaft.

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