Der Opal
als je zuvor.«
»Die Kraft des Schmerzes«, sagte das Kind zu Latil. »Enorme Kraft.«
Es hackte sich das Messer ins Handgelenk. Kurz bevor alles von dickem Rot verdeckt wurde, konnte Latil ein Stück blütenweißen Knochen sehen. Die Blutpfützen auf dem Boden dehnten sich aus.
Hier ist das Zentrum, dachte Latil. Hier bin ich ganz nah.
Über ihren Köpfen gigantische gebogene Glasscheiben, die nach draußen, in die Halle mit dem riesigen Sternenbildschirm schauten. Der Fruchtkorb der Blüte, die Nabe des Rads.
Eline begann wieder zu sprechen. »Bevor es jetzt für uns alle ans Sterben geht, möchte ich dir etwas erklären, arme, kleine Latil. Es ist wichtig, dass du es weißt.«
Für drei Sekunden schloss er seine Augen und atmete nur. Er konnte es sich leisten. Es war alles perfekt inszeniert.
»Der Konflikt, um den es hier wirklich geht, ist sehr alt. Ich weiß kaum, wo ich anfangen soll. Aber gut. Bald nach der Konstruktion des Opals bildeten sich unter uns Taan zwei große Parteien heraus. Nennen wir sie die Reformer und die Konservativen. Die eine Seite, die der Reformer, war der Ansicht, dass es nicht ganz richtig war, Wesen zu züchten, die unserer Bequemlichkeit, unserer Bewirtung und unserer Kommunikation dienten. Sie fanden sich nur widerwillig mit der Tatsache ab, dass die meisten dieser Wesen zu Bürgern ohne wirkliche Rechte erklärt wurden, und trösteten sich mit der Vorstellung, dass diese Bürger in Wirklichkeit biologische Maschinen und keine fühlenden Wesen seien. Man konnte im Opal jahrhundertelang ein Reformer sein und gleichzeitig junge Symbionten essen. Man konnte sich den Luxus eines schlechten Gewissens erlauben und sich gleichzeitig mit diesem schlechten Gewissen arrangieren. Ein sehr vorteilhaftes Arrangement, weil es den Reformern einerseits den Kitzel der moralischen Superiorität verschaffte und andererseits nicht die angenehmen Seiten der ›Ausbeutung‹ bedrohte, wie die Reformer die Nutzung der Symbionten nannten. Es gab nur eine einzige Sache, an die man in diesem Zusammenhang besser nicht dachte, aber mit diesem vergleichsweise kleinen Stachel im Fleisch ließ sich immer noch leben.
Dann gab es noch die Bedrohung von außen. Wir konnten einige Jahrhunderte lang nicht sicher sein, wie sich die Außenwelt zum Opal stellen würde, ob die anderen, unterentwickelten Gesellschaften Verständnis für unser Experiment haben würden. Unterentwickelte Gesellschaften sind wie Kinder. Sie erwarten, ja fordern, dass sie von den höher entwickelten Gesellschaften dominiert werden. Wenn das nicht geschieht, werden sie unsicher und aggressiv und stellen allerlei Unsinn an. Ein Konzept wie die Devolution und unser Einschluss im Opal mochte viele verunsichern. Wir arbeiteten hart daran, in der Galaxis ein Kräfteverhältnis herzustellen, in dem andere unsere pädagogische Aufgabe übernehmen würden. Aber man konnte sich dieser Marionetten und unfreiwilligen Bündnispartner nie völlig sicher sein, schließlich waren sie keine Taan, und sie wussten nichts von Treue. Wenn die Barbaren außer Kontrolle gerieten, was dann? Der Opal war stark, aber nicht unzerstörbar, ein Dummkopf mit einer Keule kann einen schlafenden Schlaukopf immer noch erschlagen. Das wussten auch die radikalsten Reformer, und sie beruhigten damit ihr Gewissen. Schließlich waren sie Taan, schließlich waren sie treu. Die Konservativen machten sich über die ›Ausbeutung‹ wenig Gedanken. Sie waren der Ansicht, dass ein Wunder wie der Opal alles rechtfertigte. Auch sie dachten öfter an dieses eine kleine Geheimnis, diesen feinen Stachel im Fleisch, aber als Realisten nahmen sie ihn in Kauf, ohne ihr Gewissen zu reizen. Sie hatten nur ein Problem: Wie können wir den Opal erhalten? Die Konservativen sahen die Reformer eine ganze Zeit lang nur als neurotisch an, als psychisch instabil, in jedem Fall aber als harmlos. Sie wurden auch von der Tatsache beruhigt, dass die Reformer nie so weit gingen, die wahre Natur des Konflikts nach draußen zu tragen. Sicher, sie suchten nach Ressourcen, um ihre Verschwörung zu stärken, sie intrigierten, kauften und verkauften, aber worum es dabei eigentlich ging, verrieten sie nie. Die meisten Konservativen hielten die Reformer deshalb immer noch für treu. Sie hätten früher eingreifen müssen. Sie hätten ihre Gegner erwürgen müssen. Etwa vor zweihundert Jahren bemerkten dann die Konservativen, dass die Reformer stärker wurden. Etwa von da an drehten sich die Neurosen der
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