Der Orden
weißer Rauch…«
Lucia fiel wieder ein, was Pina über eine seit Jahren anhaltende Unruhe in der Krypta gesagt hatte, über weitere Mädchen wie sie – weitere Missgeburten, dachte sie düster –, die ihre Regel bekommen hatten, statt jung zu bleiben wie alle anderen, Normalen. Vielleicht hatte die Krankheit dieser seltsamen alten Frau wirklich irgendwelche Auswirkungen – vielleicht war sie von ihnen betroffen.
Falls ja, dann gefiel ihr das nicht.
Maria Ludovica sah es in ihren Augen. »Bei Coventinas Zitzen, die hat Stahl im Leib, Rosa. Wenn deine Wahl auf sie gefallen ist, dann ist sie gut.« Die Klauenhand schoss wieder hervor und packte Lucia am Arm. »Weißt du, Kind, ich bin alt und hier drin eingesperrt«, flüsterte Maria, »aber ich bin kein Dummkopf, und lebensfremd bin ich auch nicht. Die Welt ändert sich schneller denn je, schneller als ich mich erinnern kann. Die neue Technologie – Telefon und Computer, überall Drähte, Kabel und Radiowellen – ein großes Netz, das alle verbindet… Wir haben viele neue Gelegenheiten, Geschäfte zu machen – nicht wahr, Rosa? Du siehst, Rosa und ihre Konkurrentinnen wissen das. Aber sie wissen auch, dass der Orden auf besonders festen Fundamenten stehen muss, wenn er in einer Zeit der Veränderung gedeihen soll. Und ich, ein Grundstein, bin am Zerbröckeln. Und darum taktieren die Konkurrentinnen mit offenen und verstohlenen Blicken, Besuchen ihrer Kandidatinnen und Nachfragen nach meiner Gesundheit; sie veranstalten Kraftproben untereinander, aber auch mit mir.«
Lucia fragte: »Was hat das zu bedeuten, Rosa?«
Rosa schüttelte den Kopf. »Nichts. Es bedeutet gar nichts. Mamma, du solltest so etwas nicht sagen. Es gibt keine Rivalitäten, keine Kandidatinnen. Es gibt nur den Orden, und es hat auch nie etwas anderes gegeben.«
Maria hielt ihren Blick ein paar Sekunden lang fest, dann gab sie nach. »Also schön, Rosa Poole. Wenn du es sagst.«
»Ich glaube, die Mamma ist müde, Lucia«, sagte Rosa. »Ich wollte, dass du sie kennen lernst, bevor…«
»Bevor ich sterbe, Rosa Poole?«
»Keineswegs, Mamma-nonna«, sagte Rosa mit sanftem Tadel. »Du wirst uns alle noch lange ärgern. Sag auf Wiedersehen, Lucia… Gib Maria einen Kuss.«
Lucia fiel kaum etwas ein, was sie weniger gern getan hätte. Maria beobachtete sie mit feuchten Vogelaugen, als sie einen Schritt vortrat, sich vorbeugte und Marias verschrumpelte Wange mit den Lippen streifte. Trotz ihrer abstoßenden Erscheinung war es jedoch nur Haut, menschliche Haut, weich und warm.
»Gut, gut«, sagte Rosa leise. »Schließlich ist sie deine Mutter.«
Nach dem Gespräch nahm Rosa Lucia beiseite. »Weißt du, es ist eine Ehre für dich, wie sie mit dir gesprochen hat. Aber du verstehst trotzdem nicht, habe ich Recht? Ich will dir eine Frage stellen. Als du klein warst, hier im Orden – warst du da glücklich?«
»Ja«, sagte Lucia aufrichtig. »Sehr glücklich sogar.«
»Warum?«
Sie dachte darüber nach. »Weil ich immer wusste, dass ich in Sicherheit war. Nichts, was ich brauchte, ist mir verweigert worden. Ich war von Menschen umgeben, die mich beschützt haben.«
»Was hätten sie für dich getan?«
»Sie hätten ihr Leben für mich gegeben«, sagte Lucia mit fester Stimme. »Jede von ihnen. Es war niemand in meiner Nähe, der mir Schaden zugefügt hätte.«
Rosa nickte. »Ja. Sie hätten sich für dich geopfert; das hätten sie wirklich getan. Ich bin in einer Familie aufgewachsen – einer Kernfamilie – einer Familie, in der es Probleme gab. Meine Eltern haben mich geliebt, aber sie waren unnahbar… So ist es bei den meisten Menschen, so war es schon immer in der menschlichen Geschichte – so war es bei mir. Aber du gehörst zu den wenigen Glücklichen, bei denen es anders war. Und deshalb warst du glücklich.« Rosa trat mit eindringlicher Miene näher an Lucia heran. »Du musst dir jedoch darüber im Klaren sein, dass du eines Tages für dein Glück, deine Sicherheit bezahlen musst. Das ist der Lauf der Dinge. Du musst es zurückzahlen. Und es wird bald so weit sein, Lucia.«
Lucia war verwirrt, und ihr wurde bang ums Herz. Sie versuchte, sich ihre Angst nicht anmerken zu lassen.
20
In der Hügelfestung herrschte eine gewisse Nervosität. Artorius sollte heute von seinem jüngsten Feldzug gegen die Sachsen zurückkehren, und die Daheimgebliebenen wussten nicht, wie es ihren Lieben ergangen war.
Regina schob die Gedanken daran jedoch beiseite. Nach sechs
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