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Der Orden

Der Orden

Titel: Der Orden Kostenlos Bücher Online Lesen
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Beleuchtung in diesem gewaltigen Raum stammte von einem Loch in der Kuppeldecke, dem oculus. Es formte das hereinfallende Licht zu einem breiten Strahl in der staubigen Luft und warf es in einem verzerrten Kreis an eine Wand.
    »Der Dom ist größer als jener der Peterskirche im Vatikan. Wusstest du das? Mit dem Bau des Gebäudes wurde allerdings schon vor Christi Geburt begonnen. Das Pantheon diente als Tempel für all die heidnischen Götter, wurde im siebten Jahrhundert jedoch in eine christliche Kirche umgewandelt und dadurch vor dem Abriss bewahrt. Jetzt ist es das vollständigste noch erhaltene Gebäude der Antike. Natürlich hat es trotzdem gelitten. Früher war die Kuppel innen und außen mit Bronze verkleidet, aber die Barberini-Päpste haben sie heruntergeholt, um Kanonen zu gießen. ›Was die Barbaren nicht gemacht haben, haben die Barberinis gemacht‹, wie es heißt.«
    Lucia schaute zu der blauen Himmelsscheibe hinauf. »Als Kinder sind wir immer zum Forum gebracht worden. Aber man gewöhnt sich daran, dass die Überbleibsel aus der Kaiserzeit nur noch ein Haufen Ruinen sind. Man vergisst, dass alles einmal intakt war – dass alles einmal so war wie das hier.«
    »Ja.« Im gedämpften Licht des Pantheons hatte Rosa ihre dunkle Brille abgenommen, und nun sah man ihre Augen. Sie waren schiefergrau, genau wie die von Lucia.
    Lucia sagte: »Ich finde, du solltest mir sagen, warum du mich hierher gebracht hast.«
    »Na schön. Schau dir dieses Bauwerk an, Lucia. Es wurde von Kaiser Hadrian wieder aufgebaut, und der Renaissancekünstler Raphael ist hier begraben, ebenso wie die ersten Könige Italiens. Ein und dasselbe Bauwerk hat im Lauf der Zeit unterschiedlichen Zwecken gedient. Im Grunde ist es jedoch dasselbe Pantheon, derselbe Ausdruck der Vision seines Architekten.«
    »Ich verstehe nicht.«
    Rosa lachte. »Ich glaube allmählich, dass ich im Alter ein bisschen unbeholfen werde. Das war eine Metapher, Lucia.«
    »Oh.« Lucia wagte einen Schuss ins Blaue. »Das Pantheon ist wie der Orden?«
    »Nun, ja, ich glaube schon, obwohl ich das nicht gemeint habe. Immerhin ist diese Kirche noch älter als der Orden. Ja, der Orden hat eintausendsechshundert Jahre überdauert, indem er sich angepasst hat, indem er unsere Arbeit den Bedürfnissen und Zwängen der jeweiligen Zeit gemäß verändert hat. Aber wir, wer wir sind und weshalb wir uns zusammenscharen – all das hat sich im Kern nicht verändert.
    Und genauso wie das Pantheon überlebt hat, obwohl es sich verändert hat – genauso wie der Orden überlebt, obwohl er sich verändert –, so wirst auch du die Veränderungen überleben, durch die dein Körper dich führt, jetzt und in Zukunft. Das wollte ich dir zeigen. Also, wenn du nicht im Orden aufgewachsen wärst, würde man es bei einem Mädchen deines Alters für normal halten, dass es seine Periode bekommt. Was immer aus dir wird – was immer von dir verlangt wird –, du bleibst trotzdem du selbst. Merk dir das.«
    Was immer von dir verlangt wird: Jetzt bekam Lucia es mit der Angst.
    Rosa hob ihr Gesicht zu dem Lichtkranz in der Decke. »Du solltest dir ein bisschen Zeit für dich selbst nehmen, Lucia. Geh wieder nach draußen – tauch ein in Rom. Eine der erstaunlichsten Städte der Welt liegt direkt vor unserer Tür, und doch benehmen wir uns unten in der Krypta oftmals so, als gäbe es sie gar nicht! Und ich meine nicht, mit deiner Klasse. Geh allein – oder mit ein oder zwei Freundinnen, wenn du magst. Diese Pina kommt mir ganz vernünftig vor. Geh eine Zeit lang unter die Menschen.«
    Es soll mich vorbereiten, dachte Lucia. Das ist es, was sie mir sagen will. Ich muss meinen Horizont erweitern, zur Vorbereitung – worauf?
    »Du sprichst in Rätseln, Rosa«, fuhr sie auf. »Was wird man von mir verlangen?«
    »Eine Menge, wenn du Glück hast. Du wirst schon sehen. Ich werde für dich tun, was ich kann – aber denk immer daran, ich beneide dich! Es ist keine Pflicht, sondern ein Privileg.« Rosa warf einen Blick auf ihre Armbanduhr. »Jetzt müssen wir uns auf den Rückweg machen. Ich möchte, dass du jemanden kennen lernst.«
    »Wen?«
    »Maria Ludovica.«
    In der staubigen Luft des Pantheons hatte Lucia das Gefühl, als setzte ihr Herzschlag aus. Maria Ludovica war eine der matres.
    Rosa beobachtete ihre Reaktion und lächelte.
     
    Der Fahrstuhl hatte Wände aus Stahl und sank zügig und beinahe lautlos in die Tiefe. Alles sehr modern, wie ein großer Teil der Gerätschaften in der

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