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Der Orden

Der Orden

Titel: Der Orden Kostenlos Bücher Online Lesen
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Krypta. Rosa stand in geduldigem Schweigen da und betrachtete das LED-Display des Lifts, die Hände ruhig vor dem Bauch verschränkt. Lucia beneidete sie um ihre Gelassenheit.
    Lucia stellte sich die Krypta vage als ein gewaltiges, zylindrisches Gebilde vor, das tief ins Erdreich unter der alten Via Appia versenkt worden war. Es gab mindestens drei Ebenen – das wusste jeder. In der ersten Etage, am nächsten zur Erdoberfläche, waren Schulen, Büros, Bibliotheken und das Computerzentrum, wo sie selbst an den endlosen Projekten des scriniums arbeitete. Eine Etage tiefer – im Orkus, wie es im Krypta-Jargon hieß – befanden sich Wohnbereiche, die Schlafsäle, Baderäume und Refektorien, Vorratsräume, Küchen und eine Klinik, allesamt Tag und Nacht voller Menschen. Nur wenige der Tagesmädchen, die die berühmten Schulen des Ordens besuchten, stiegen jemals so weit hinab; auch die Lichtstrahlen reichten nicht so tief, dort gab es nur den blassen Schein elektrischen Lichts und in der alten Zeit, wie es hieß, Kerzen und Fackeln.
    Und darunter war mindestens noch eine weitere Ebene.
    Der Fahrstuhl kam nahezu geräuschlos zum Stehen. Die Türen glitten auf und gaben den Blick auf einen sachlich-nüchternen Korridor mit weißen Wänden frei: die unterste Etage. Rosa ging mit beruhigendem Lächeln voran. Lucia folgte ihr widerstrebend. Der Korridor war schmal. Einige der Türen, die von ihm abgingen, waren schwer, als sollten sie luftdicht schließen. Ein leichter antiseptischer Geruch lag in der Luft, stark überlagert von einem angenehmeren Geruch wie dem von Lavendel.
    Lucias Herz klopfte. Niemand, den sie kannte, hatte der dritten Ebene schon einmal einen Besuch abgestattet. Sie selbst war seit ihrer frühen Kindheit nicht mehr dort gewesen. Nach dem wenigen, was sie wusste, war dies der Bereich der Kindergärten und Krippen, wo auch sie zur Welt gekommen war und die ersten zwei Lebensjahre verbracht hatte. Sie erinnerte sich jedoch nur an ein verschwommenes Durcheinander aus lächelnden Gesichtern und blassgrauen Augen – alle gleich, keine irgendwie hervorstechend, alle liebevoll.
    Dem Getuschel im Dunkeln zufolge war dies auch der Bereich der Leichenhallen. Man wurde im Orkus geboren, hier unten auf der dritten Etage, und man starb im Orkus. Angeblich. Lucia wollte es nicht wissen.
    Der Korridor war natürlich voller Menschen. In der Krypta wimmelte es überall von Menschen. Sie lächelten, nickten und wichen Rosa aus, die vor Lucia herging. Fast alle waren weiblich. Die meisten trugen Alltagskleidung, einige jedoch auch schlichte Baumwollkittel, die wie Schwesterntrachten aussahen. Obwohl die meisten die üblichen ovalen Gesichter und rauchgrauen Augen hatten – und obwohl alle jung wirkten, nicht viel älter als sie –, erkannte Lucia kein einziges Gesicht.
    Sie hatte im Schlafsaal ein paar Klatschgeschichten aufgeschnappt, denen zufolge die Krypta in ihren riesigen Hallen und Gängen bis zu zehntausend Menschen beherbergte. Das erschien ihr kaum glaubhaft – aber wohin man auch schaute, überall waren weitere Korridore und weitere Räume, die sich ins elektrisch erleuchtete Halbdunkel erstreckten: Wer konnte schon sagen, wie weit? Sie würde es nie erfahren, denn sie wollte es gar nicht wissen. Unwissenheit ist Stärke…
    Und es war möglich, ging ihr jetzt durch den Kopf, dass niemand das Gesamtbild kannte – gar niemand.
    Hier auf der dritten Ebene starrten die Leute sie offen an. Ihr Benehmen war nicht feindselig – einige von ihnen lächelten ihr sogar zu –, aber Lucia merkte, dass sie den Kopf einzog. Sie war hier fehl am Platz; sie wusste es, und die anderen wussten es auch. Der Druck dieser anklagenden Blicke erweckte in ihr den Wunsch, wieder dorthin zu fliehen, wohin sie gehörte. Sie hatte das Gefühl, Atemnot zu bekommen, und geriet beinahe in Panik, als wäre die Luft in diesen tief liegenden Räumen schlecht.
    Wenn sie doch nur wie Rosa sein könnte! Sie schien es gewohnt zu sein, mit der Leichtigkeit eines Staubkörnchens im Pantheon von einer Etage zur anderen zu wechseln.
    Endlich blieb Rosa vor einer Tür stehen. Lucia verspürte eine ungeheure Erleichterung. Was immer vor ihr lag, die Nervenprobe des Korridors hatte sie wenigstens hinter sich. Rosa öffnete die Tür und ließ Lucia den Vortritt.
    Was ihr als Erstes auffiel, war das Flair von Reichtum. Der Raum ähnelte einem Salon, dachte sie, mit dunklen Eichenvertäfelungen an den Wänden, Marmorintarsien im Fußboden und vielen

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