Der Orden
Blau; der blasse Sternenfluss, der sich zu dieser Jahreszeit über das Himmelsdach zog, war gerade eben zu erkennen. Regina hatte gelernt, dass das lateinische Wort villa »Landgut« bedeutete; sie konnte die Umrisse der Scheune, des Getreidespeichers und der anderen Nebengebäude ausmachen, ebenso die Felder, auf denen tagsüber das Vieh weidete. In den wogenden Hügeln jenseits der Grenzen der Villa blinkte eine einzelne Ansammlung von Lichtern. Es war eine herrliche Nacht.
Aber Aetius’ Miene war streng.
Aetius war ein großer, schwerer Mann, ein regloser Fels der Kraft, der in diesem glitzernden Rahmen deplatziert wirkte. Sie hatte damit gerechnet, dass er in seiner Rüstung zum Fest kommen würde. Doch er trug eine schlichte Tunika aus ungebleichter Wolle mit farbigen Streifen am Saum und an den Ärmeln. Seine Schuhe waren allerdings die eines Soldaten: dicke Holzsohlen, mit Lederstreifen an die gewaltigen Füße gebunden. Er führte zwar keine Waffe mit sich, aber Regina sah die tiefen Narben im muskulösen Fleisch seines Armes.
Marcus hatte ihr erzählt, dass Aetius im Heer gedient und vier Jahre in Europa verbracht hatte – unter dem Kommando von Constantius, einem britannischen Militärbefehlshaber, der mit seinen Truppen das Meer überquert hatte, um den kaiserlichen Purpur zu erringen. Constantius war besiegt worden. Seine Truppen waren aufgelöst oder in andere Einheiten eingegliedert worden und nie zurückgekehrt – bis auf einzelne Soldaten wie Aetius, der jetzt bei den Grenztruppen diente. Marcus hatte verdrossen über all diese Dinge und den geschwächten Zustand des Heeres in Britannien gemurrt. Aber Regina verstand kaum etwas davon und hatte ohnehin eine sonnigere Lebenseinstellung als ihr mürrischer alter Vater; außerdem fand sie die Geschichte von Constantius ziemlich aufregend. Ein Kaiser aus Britannien! Doch als sie Aetius nach seinen Abenteuern fragte, sah er sie nur an. Seine blassgrauen Augen lagen tief in den Höhlen und waren dunkel.
Nun hockte er sich vor Regina auf die Fersen und nahm ihre kleine Hand in seine riesige Tatze.
»Hab ich was angestellt?«, stammelte sie nervös.
»Wo ist Cartumandua?«
Regina schaute sich um und merkte zum ersten Mal, dass die junge Sklavin nicht an ihrem gewohnten Platz war, ein paar Schritte hinter ihr. »Ich weiß nicht. Ich bin ihr nicht weggelaufen, Großvater. Es ist nicht meine Schuld. Ich…«
»Ich will dir sagen, wo sie ist«, sagte er. »Sie ist in ihrem Zimmer. Und übergibt sich.«
Regina bekam es mit der Angst. Ein Rüffel von Aetius war viel schlimmer als jede Ermahnung ihrer Mutter oder gar ihres Vaters; wenn man von Aetius erwischt wurde, saß man wirklich in der Patsche. »Ich hab nichts getan«, jammerte sie.
»Ganz bestimmt nicht? Ich weiß, was du früher immer getan hast«, sagte er. »Du hast ihr befohlen, im Kreis zu laufen, bis ihr schwindlig wurde. Deine Mutter hat es mir erzählt.«
Das stimmte, wie sie zu ihrer Schande gestehen musste. »Aber das ist lange her. Es muss – ach, es muss Monate her sein! Da war ich ja noch ein kleines Mädchen!«
»Und warum ist Carta dann übel?«
»Ich weiß es nicht!«, protestierte Regina.
Er kniff die Augen zusammen. »Ich frage mich, ob ich dir glauben soll.«
»Ja!«
»Aber du sagst nicht immer die Wahrheit. Oder, Regina? Ich fürchte, du wirst ein verzogenes und eigensinniges Kind.«
Regina kämpfte mit den Tränen. Sie wusste, dass Aetius Weinen als Zeichen der Schwäche betrachtete. »Meine Mutter sagt, ich bin ein braves Mädchen.«
Aetius seufzte. »Deine Mutter liebt dich sehr. So wie ich. Aber Julia ist nicht immer… vernünftig.« Sein Griff um ihre Hand lockerte sich. »Hör zu, Regina. Du kannst dich einfach nicht so benehmen. Das Leben geht nicht so weiter wie bisher, wenn du groß bist. Die Dinge werden sich ändern – ich weiß nicht, wie, aber ändern werden sie sich, so viel steht fest. Und ich glaube, Julia versteht das nicht immer. Deshalb bringt sie es dir nicht bei.«
»Sprichst du von Constantius?«
»Von diesem Hanswurst? Ja, unter anderem.«
»Niemand sagt mir was. Ich weiß nicht, was du meinst. Und es ist mir auch egal. Ich will nicht, dass die Dinge sich ändern.«
»Was wir wollen, zählt wenig in dieser Welt, meine Kleine«, sagte er ruhig. »Jetzt zu Carta. Du darfst nicht vergessen, dass sie ein Mensch ist. Eine Sklavin, ja, aber ein Mensch. Weißt du, dass sie den Namen einer Königin trägt? Ja, den Namen einer Königin der
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