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Der Orden

Der Orden

Titel: Der Orden Kostenlos Bücher Online Lesen
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mit großen, neugierigen Augen an, als wäre sie seit Wochen nicht mehr bei ihnen gewesen – und in gewissem Sinn stimmte das ja auch. Sie sprachen mit ihr, verabreichten ihr kleine Brocken Klatsch und erzählten, was während ihrer »Abwesenheit« vorgefallen war.
    Es dauerte drei Tage, bis eine von ihnen sie berühren konnte, ohne zurückzuzucken.
    Allmählich spürte Lucia jedoch, wie alte Verbindungen heilten, als wären sie ein gebrochener Knochen, der wieder ins Ganze eingefügt wurde. Ihr Stimmungswandel war erstaunlich. Es schien ihr, als wäre die Sonne hinter den Wolken hervorgekommen.
    Nach einer Woche in der Klinik wurde sie entlassen. Die Ärztinnen schickten sie in ihren Schlafsaal und zu ihrer Arbeit im scrinium zurück, bestanden aber darauf, dass sie alle paar Tage zu Nachuntersuchungen vorbeikam.
    Sie wusste, sie sollte sich keine Gedanken über all dies machen und es nicht analysieren, sondern einfach akzeptieren. Sie musste wieder lernen, im Augenblick zu leben.

 
26
     
     
    Brica fing an, in der Bäckerei ihres Vaters zu arbeiten. Regina gegenüber war Brica weiterhin in sich gekehrt, mürrisch und irgendwie niedergeschlagen. Fern von ihrer Mutter, so berichtete Amator, war sie jedoch offener, lebhaft und guten Willens und saß oft auch noch nach dem Ende des Arbeitstages mit den jüngeren Arbeitern zusammen. Amator schmückte die Wahrheit zweifellos aus; Regina war sicher, dass er keine Gelegenheit auslassen würde, eine Messerklinge der Zwietracht zwischen Mutter und Tochter zu treiben. Aber sie missgönnte ihrer Tochter das bisschen Glück nicht.
    Sobald das erste Geld von Amator eintraf, machte sich Regina auf die Suche nach ihrer Mutter.
    Erschwert wurde die Suche dadurch, dass ein derart großer Teil Roms so offensichtlich ungeplant war. Der historische Stadtkern hatte stets die sieben Hügel umfasst, die sich in der Zeit, als Rom nur eine von etlichen sich zankenden Gemeinden gewesen war, leicht hatten verteidigen lassen. Das erste Forum war in dem sumpfigen Tal erbaut worden, das zwischen den schützenden Schultern der steilen Hügelflanken lag.
    Seither war die Stadt jedoch – abgesehen von ihrem monumentalen Herz – einfach dem Bedarf entsprechend gewachsen. Die Straßen, durch die Regina lief, schlängelten sich willkürlich dahin, als folgten sie den mäandernden Spuren von Tieren über nunmehr tief unter den Schuttschichten liegende Felder, ganz anders als die pfeilgeraden Straßen in den Provinzen. Eine ordentliche Entwicklung war nur dann möglich gewesen, wenn ein Brand oder eine andere Katastrophe einen Teil der Stadt in Trümmer gelegt und damit die seltene Gelegenheit zum Wiederaufbau eröffnet hatte. Man munkelte, dass Kaiser Nero in den zentralen Bezirken einmal absichtlich Feuer gelegt habe, um Platz für das Haus aus Gold zu schaffen, das er sich hatte bauen wollen.
    Seltsamerweise gab es dennoch Muster in diesem weitläufigen Chaos.
    Sie erkannte es beispielsweise an den Läden. Es gab unverwechselbare Künstlerviertel, Juweliersviertel und Modeviertel. Man konnte sehen, wie es dazu kam. Wo eine erfolgreiche Bäckerei wie die von Amator aufmachte, wurden andere Nahrungsmittelläden angezogen, die Fischöl oder Oliven, Lammfleisch oder Obst verkauften. Bald hatte man einen Bezirk, der für die Qualität seiner Nahrungsmittel berühmt war, und dann siedelten sich vielleicht Folgeunternehmen wie Speisegaststätten an. Oder man fand Menschen mit ähnlichen Neigungen, die von gemeinsamen Interessen zusammengeführt wurden: So war Amators Haus am Rand des Trajanskomplexes eines von mehreren in dem Gebiet, die Getreide- und Wassermagnaten gehörten. Dann gab es subtilere, kurzlebigere Veränderungen, wenn ein Gebiet aus irgendeinem mysteriösen Grund in Mode kam oder ein anderes stärker für Verbrechen und Unordnung anfällig war, dadurch weitere Banditen anzog und die Gesetzestreuen vertrieb.
    Die Art, wie die Stadt sich irgendwie selbst organisierte, beeindruckte Regina tief. Ihr Wachstum – Straße für Straße, Gebäude für Gebäude – folgte keinem bewussten Plan, nicht einmal dem Willen der Kaiser, sondern war von individuellen Entscheidungen geprägt, die von der Gier oder der inneren Größe, der Weitsicht oder der Kurzsichtigkeit bestimmt wurden, die jedem Menschen zu Eigen war. Und aus den Millionen kleiner Entscheidungen, die jeden Tag getroffen wurden, formten sich Muster und lösten sich wieder auf wie kleine Wellen in einem turbulenten Strom; und irgendwie

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