Der Orden
kennen lernen, ihnen helfen, sie sogar manipulieren können. Hast du das gewusst? Wir brauchen andere Menschen, um ein vollständiges Bewusstsein zu entwickeln. Wenn man also allein ist, wenn niemand einen ansieht oder mit einem spricht, dann ist es wirklich so, als existierte man nicht.«
»Sie hassen mich alle.«
Rosa beugte sich vor. »Kannst du es ihnen verübeln? Du lässt uns im Stich, Lucia. Die Krypta ist ein stiller Teich. Du hast einen großen, dicken Stein in diesen Teich geworfen, dass es nur so geklatscht hat und Wellen hin und her gelaufen sind. Du hast alle durcheinander gebracht.«
Lucia schwieg.
Rosa fragte: »Weißt du noch, was mit Francesca passiert ist?«
Lucia runzelte die Stirn. Sie hatte die Sache mit Francesca vergessen.
Francesca, eine Schwester aus Lucias Schlafsaal, war weder beliebter noch unbeliebter als andere gewesen und hatte sich nie von der Menge abgehoben – aber das tat schließlich niemand. Dann hatte Francesca eines Tages plötzlich nicht mehr zur Gruppe gehört. Alle anderen, auch Lucia, hatten einfach aufgehört, mit ihr zu reden.
Genau dasselbe passierte nun auch Lucia.
»Francesca war eine Diebin«, sagte Rosa streng. »Sie war besessen von Schmuck und Accessoires – funkelnden, glitzernden Dingen. Sie hat ihre Schwestern mehrfach bestohlen und sich ein Versteck unter dem Bett eingerichtet. Natürlich hat sie alles geheim gehalten. Als es herauskam – nun, da wollte natürlich niemand mehr mit ihr sprechen.«
Lucia hatte nichts von den Diebstählen gewusst, auch nicht, warum Francesca ausgeschlossen worden war. Aber schließlich stellte man ja auch keine Fragen nach dem Warum. Es war leicht gewesen, dachte sie verwundert, Francesca einfach zu ignorieren, sich zu benehmen, als gäbe es sie nicht – denn in gewissem Sinn hatte es sie ja auch nicht mehr gegeben. Was Lucia betraf, so hatte sie alles einfach genauso gemacht wie alle anderen, wie sie es immer tat, wie man es ihr von Kindesbeinen an beigebracht hatte, ohne Fragen zu stellen. Sie hatte es kaum bemerkt, als Francesca buchstäblich verschwunden war, als das blasse, einsame Gespenst im Refektorium oder im Schlafsaal sich in Luft aufgelöst hatte und nicht mehr zurückgekehrt war.
»Was ist aus ihr geworden?«
»Sie ist tot«, sagte Rosa. »Sie hat sich umgebracht.«
Trotz ihres eigenen inneren Aufruhrs war Lucia schockiert.
Tot, wegen einer Hand voll billiger Schmuckstücke? Wie konnte das richtig sein?… Sie sollte so etwas nicht denken. Aber sie konnte nicht anders.
Und sie bekam Angst.
»Ich kann mich nicht ändern«, sagte sie verzweifelt. »Schau mich an. Ich bin ein großes, dummes Tier. Mein Kopf ist voller Steine. Ich stinke. Ich weiß, du riechst es. Ich kann nichts dagegen machen, ich wasche mich und wasche mich…« Obwohl ihre Augen brannten, kamen keine Tränen. »Vielleicht ist es besser, wenn ich auch sterbe.«
»Nein.« Rosa streckte die Hand aus, zog Lucias Arm unterm Tisch hervor und nahm ihre Hand. Es war seit Wochen das erste Mal, dass jemand Lucia berührte. Es war, als liefe ein elektrischer Strom durch sie hindurch. »Du bist zu wichtig, als dass wir dich verlieren dürften, Lucia«, sagte Rosa. »Ja, du bist anders. Aber der Orden braucht Mädchen wie dich.«
»Warum?«, fragte Lucia schwach. »Wozu?«
Aber Rosa zog sich kaum merklich zurück und ließ ihre Hand los.
Man sollte keine Fragen stellen. Unwissenheit ist Stärke. So stand es in großen Lettern an der Wand vor ihr. »Tut mir Leid«, sagte Lucia rasch.
»Ist schon gut.« Rosa stand auf. »Alles wird wieder gut, Lucia. Du wirst schon sehen.«
Lucia – schwach, ausgehungert, des Schlafes beraubt – klammerte sich an diese Worte. In ihrem benommenen, schmerzgepeinigten Zustand wollte sie nur eines: dass ihre Isolation aufhörte. Und sie gab sich alle Mühe, die leisen Stimmen in ihrem Kopf zu ignorieren, die selbst jetzt beharrliche, unverschämte Fragen stellten: Wie kann es jemals wieder gut werden, wie, wie? Und was wollen sie von mir?
Rosa wies Lucia in die Klinik im Orkus ein.
Die Ärztinnen sagten, ihr Zustand sei nicht allzu ernst, obwohl sie mehr Gewicht verloren habe, als es für ein Mädchen ihres Alters gesund sei. Sie bekam ein paar leichte Medikamente und wurde auf eine spezielle Diät gesetzt.
Rosa ermunterte Lucias Freundinnen, sie zu besuchen. Sie kamen langsam und schüchtern: Pina am ersten Tag, Idina und Angela am zweiten, Rosaria und Rosetta am nächsten. Anfangs starrten sie Lucia
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