Der Orden
unterhielten sich miteinander, als wäre sie nicht da. Ausgeschlossen vom endlosen Klatsch und Tratsch war es ihr, als ginge eine große Geschichte ohne sie weiter.
Hör auf deine Schwestern. So lautete ein weiterer der drei Leitsätze im kurzen Katechismus des Ordens. Er war in die Wand jedes Kindergartens eingraviert und wurde unablässig wiederholt. Aber wie sollte man zuhören, wenn niemand mit einem sprach?
Jetzt, wo sie ausgeschlossen war, merkte sie so deutlich wie nie zuvor, wie eng die Frauen und Mädchen im Orden zusammenlebten. Sie gingen immer zu mehreren, hakten sich ein, unterhielten sich unaufhörlich, stießen mit den Hüften aneinander, steckten die Köpfe zusammen, und ihre Lippen streiften sich in platonischen Küssen. In den Refektorien sah man manchmal Gruppen von zehn, fünfzehn oder zwanzig Mädchen, die alle durch untergehakte Arme, Hände auf Schultern oder aneinander gedrückte Körper verbunden waren. In intensiven Momenten packten sie einander am Arm und an den Schultern und küssten sich sogar. Auch nachts war es nicht ungewöhnlich, dass zwei, drei oder vier von ihnen sich in einem Bett versammelten, miteinander tuschelten, sich küssten und schließlich eng umschlungen einschliefen. All das hatte nichts Sexuelles, denn den Schwestern fehlte jegliche Sexualität. So schmal wie Siebenjährige, schmiegten sie sich auf der Suche nach Freundschaft und Wärme unschuldig aneinander.
Aber nicht Lucia. Nicht mehr. Niemand kam auch nur in ihre Nähe, nicht näher als ein, zwei Meter, nicht nah genug für eine Berührung. Es kam ihr so vor, als wäre sie in einer großen Glasblase gefangen, um welche die anderen einen Bogen machten, ohne es auch nur zu bemerken.
Oder es war, als röche sie schlecht. Und vielleicht traf das ja auch zu, dachte sie irgendwann. Manchmal, wenn sie einen vollen Raum betrat, fiel ihr ein subtiler Geruch auf, eine Art milchiger Süße, sanft und freundlich. Es war der Geruch der Schwestern. Im Vergleich dazu musste sie nach Blut und Schweiß riechen, brünstig und animalisch, als wäre sie ein Tier auf dem Feld und kein menschliches Wesen wie die anderen.
Nachdem sie den Brunstgeruch einmal wahrgenommen hatte, schien sie ihn Tag und Nacht in der Nase zu haben. Sie ging dazu über, mehrmals täglich zu duschen, schrubbte ihre Haut, bis sie wund war, und wechselte ständig die Kleider. Aber der Gestank strömte dennoch aus ihrem Körper, eine üble Ausdünstung, der sie nicht entrinnen konnte – es war nämlich ihr Geruch.
Und so ging es immer weiter. Die Speisen schienen ihren Geschmack zu verlieren; es war, als sollte man Pappe oder Gras essen. Es ging so weit, dass sie nicht mehr schlafen konnte. Sie lag allein in ihrem Bett und horchte auf die Laute, die sie umwehten, das Geflüster und Gekicher, das leise Schnarchen. Der Schlafmangel und ihre ungenügende Ernährung zermürbten sie bald. Sie schleppte sich zur Arbeit, aber diese kam ihr bald ebenso sinnlos vor wie ihre müden Tage. In ihrer Freizeit saß sie einfach allein herum, von stummem Selbsthass erfüllt, und war sich jeder Pore in ihrer Haut bewusst, durch die Blut und Schmutz sickerten.
Nach einem Monat der Ächtung bekam sie heftige Magenkrämpfe. Sie taumelte in eine Toilette und würgte eine halbe Stunde lang trocken, brachte jedoch nichts heraus als bittere Galle, die ihr in der Kehle brannte.
Rosa kam ins Refektorium und nahm ihr gegenüber Platz. »Ich habe dich auf der Toilette gesehen.« Ihr Ton war analytisch, nicht mitfühlend.
Lucia hatte allein dagesessen, ohne den Teller mit dem erkaltenden Essen vor ihr anzurühren. Sie hatte die Hände zwischen die Schenkel gesteckt und den Kopf gesenkt. Ein kunstvolles Mosaik über ihr zeigte das Ordens-Logo, die sich küssenden Fische.
»Du weißt, weshalb du krank bist, nicht wahr? Du hast seit einem Monat kaum noch gegessen. Oder geschlafen, nach deinem Aussehen zu urteilen. Du magerst ab.«
»Ist mir egal.« Lucias Stimme war kratzig. Sie wusste nicht mehr, wann sie das letzte Mal mit jemandem gesprochen oder auch nur ein einziges Wort gewechselt hatte. Es musste Tage her sein, dachte sie.
»Du fühlst dich, als würdest du nicht existieren. Als wärst du eigentlich gar nicht da. Als wäre das ein Traum.«
»Ein Albtraum.«
»Wir sind nicht dafür gemacht, allein zu sein, Lucia. Wir sind soziale Wesen. Unser Verstand hat sich in erster Linie entwickelt, damit wir herausfinden können, was im Kopf anderer Menschen vorgeht – damit wir sie
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