Der Orden
Weihrauch. Die unvermittelte Stimme, die ein gestelztes Latein sprach, gehörte einer Frau. Sie drang leise an Reginas Ohr, mit dem heiseren Knurren des Alters. Regina sah die Arena nicht mehr. »Diese Spiele hatten einmal religiöse Bedeutung, weißt du. Man nannte sie munera, Menschenopfer. Aber jetzt leben wir in primitiveren Zeiten, und die Spiele sind nur noch Spektakel, mit denen man die römische Bevölkerung, vor der selbst die Kaiser Angst haben, versöhnlich stimmen will. Deshalb ist das morgendliche Schauspiel, bei dem es immer noch echte Tote gibt – selbst wenn es nur Tiere und Verbrecher sind –, so beliebt…«
Regina hatte diesen Moment vorausgeplant, hatte versucht, ihn im Geist vorwegzunehmen. Aber jetzt, wo er da war, fühlte sie sich, als wäre sie zu Stein erstarrt, wie eine der unglücklichen Statuen in den Wänden der Arena.
Sie drehte sich um.
Die Frau neben ihr trug eine schlichte weiße stola und einen Umhang aus feiner Wolle. Sie stand aufrecht da, schlank und grauhaarig, und ihr Gesicht sah trotz der Falten um Augen und Mund und die von Jahren italienischen Lichts gestraffte Haut immer noch gut aus. Die rauchgrauen Augen waren klar und unverändert, und mit ihren über sechzig Jahren war sie nach wie vor schön.
»Mutter.«
»Ja, mein Kind.«
Sie umarmten sich. Aber es war eine beinahe förmliche Geste. Die Muskeln ihrer Mutter waren steif, so steif wie ihre eigenen. So würde es immer sein, dachte Regina. Um in Rom zu überleben, musste Julia einen stählernen Kern in ihrem Innern entdeckt haben. Es war eine Begegnung zweier starker Frauen, keine überschwängliche Wiedervereinigung.
Vor ihnen fuhren die professionellen Tiertöter unbeachtet damit fort, die Tiere zu reizen und in Rage zu versetzen, um die Leidenschaften der brüllenden, dicht gedrängten Menge zu befriedigen.
Sie tauschten Informationen aus. Fakten, keine Gefühle.
Reginas kurzer Bericht über ihr Leben seit der Todesnacht ihres Vaters schien Julia nicht zu interessieren. Für sie war Britannien allem Anschein nach ein kalter, trister, ferner Ort, den man am besten vergaß. Vielleicht lag es aber auch daran, dachte Regina, dass selbst jetzt noch ein kleiner Rest lästiger Schuldgefühle in ihrem Herzen steckte, belanglos, aber enervierend, wie ein Saatkorn zwischen den Zähnen.
Julia wirkte allerdings auch nicht viel lebhafter, als sie mit leiser Stimme ihre eigene Geschichte erzählte. »Ich bin nach Rom gekommen, um mit meiner Schwester zusammen zu sein. Deiner Tante.«
Regina stöberte in ihrem Gedächtnis. »Helena.«
»Helena, ja…« Wie sich herausstellte, war die rund zehn Jahre ältere Helena noch am Leben – eine der wenigen über Siebzigjährigen in ganz Rom. »Aber schließlich«, sagte Julia trocken, »haben wir in unserer Familie schon immer ein hohes Alter erreicht.«
Julia hatte die Hilfe ihrer Schwester benötigt. Entgegen Reginas bisheriger Überzeugung hatte Julia Britannien nur mit einem geringen Teil des Familienvermögens verlassen. Vor seinem Tod hatte der stets ängstliche, stets übervorsichtige Marcus sein Geld in der Villa und ihrer Umgebung vergraben. »Und soweit ich weiß, liegt das Geld der Familie dort immer noch und verfault in der Erde. Sofern es nicht von Sachsen, bacaudae oder anderen unerwünschten Elementen geraubt worden ist.« Es schien ihr nicht besonders viel auszumachen.
Ihre Schwester Helena hatte sich in Rom offenbar in eine sehr einflussreiche Position manövriert, denn sie war eine der obersten Dienerinnen der vestalischen Jungfrauen.
Die Jungfrauen waren ein Überbleibsel aus Roms frühesten Tagen. Wie es hieß, war der Orden von Numa Pompilius gegründet worden, dem ersten König nach Romulus. Er hatte Vestalinnen beauftragt, sich um die heilige Flamme von Vesta zu kümmern, der Göttin des Herdes und des Kamins. Novizinnen wurden im Alter von sechs bis zehn Jahren dem Pontifex Maximus übergeben, Roms oberstem Priester, und mussten dreißig Jahre lang unberührt bleiben. Der Orden war mittlerweile von zentraler Bedeutung für die Reinheit und Stärke Roms, und die heilige Flamme war jahrhundertelang nicht mehr erloschen.
»Aber nun brennt sie nicht mehr«, sagte Julia leise. »Als Konstantin seine christlichen Kirchen zu bauen begann, hat sich alles verändert.«
Für viele symbolisierte das Erlöschen der Flamme den Niedergang Roms, denn die Stadt war nur sechzehn Jahre später geplündert worden. Einige der Jungfrauen und ihrer Dienerinnen,
Weitere Kostenlose Bücher