Der Orden
leise.
»Wirklich?«
»Du hast dich unter die Außenstehenden gemischt. Denk daran, ich bin als contadina aufgewachsen. Du betrachtest deine Umgebung mit den Augen einer Außenstehenden – und du denkst, wie seltsam ihr all dies vorkommen würde.«
Mag sein, dass ich das getan habe, dachte Lucia.
»Du brauchst es nicht zu leugnen«, sagte Rosa. »Und du hast Recht – es wäre für jeden seltsam, der in einer kleinen Kernfamilie aufgewachsen ist. Mir kam es auch seltsam vor, bis mir klar wurde, wie richtig das alles ist… Du warst auch einmal so ein Kind, Lucia. Du hast in diesem Raum gespielt, so wie diese Kinder jetzt.«
»Ich weiß.«
»Und du hast mit deiner Jahresgruppe die Phasen deines Lebens durchlaufen, die Krippen und Vorschulen und dann die richtige Schule im obersten Stock… und neue Kinder haben deinen Platz hier eingenommen.«
Lucia zuckte die Achseln. »Das ist doch allgemein bekannt. Auf diese Weise erneuert sich der Orden.«
»Ja, natürlich. Komm jetzt.« Sie ging weiter, und Lucia folgte ihr.
Sie durchquerten eine Tür und gingen einen weiteren Korridor entlang. Hier war es kälter und dunkler; der Gang wurde nur von einer Reihe herunterhängender Glühbirnen erhellt.
Während sie nebeneinander hergingen, sagte Rosa: »In der Krypta leben zehntausend Menschen. Jedes Jahr stirbt ungefähr ein Prozent von uns – einige an Unfällen und Krankheiten, aber die meisten an Altersschwäche. Das sind hundert pro Jahr. So viele müssen ersetzt werden. Du hast es selbst gesagt: Der Orden muss sich erneuern. Hast du dich schon einmal gefragt, auf welche Weise das geschieht?«
Lucia runzelte die Stirn. »Also muss es hundert Babys pro Jahr geben. Damit die Gesamtzahl gleich bleibt.«
»Richtig. Wie wir gerade in der Kinderkrippe gesehen haben. Die Zukunft des Ordens: Jedes Jahr werden an einem Ende der gewaltigen Verarbeitungsmaschine der Krypta hundert warme Körper eingespeist, und am anderen Ende kommen hundert kalte heraus. Hm?«
Lucia erschauerte. »Es ist schrecklich, so etwas zu sagen.«
»Aber durchaus zutreffend. Na schön. Aber wo kommen die Babys her, Lucia?«
Lucia sagte unbehaglich: »Von den matres.«
»Richtig. Von den matres, unser aller Mütter. Lucia, du weißt, dass der Orden sehr alt ist. Früher einmal war er klein, und es gab nur drei matres. Aber der Orden wuchs, wir brauchten mehr Babys, und die Zahl der matres musste auf neun steigen, drei mal drei. Und dann wuchs der Orden erneut, und aus neun wurden siebenundzwanzig, drei mal drei mal drei…«
Es kam Lucia überhaupt nicht seltsam vor, dass jede dieser siebenundzwanzig Frauen drei oder vier Kinder pro Jahr zur Welt bringen musste, um einen Ausstoß von hundert Babys aufrechtzuerhalten.
Sie gelangten zu einer kleinen, in die Wand gehauenen Nische. Hinter einer dicken Glasscheibe standen drei winzige Statuen, schmutzig vom Alter, abgenutzt von der Berührung vieler Hände. Sie sahen aus wie Frauen, trugen aber Umhänge mit Kapuzen. Vielleicht waren es Befana-Figuren, dachte Lucia.
Rosa legte die Finger ans Glas. »Es ist kugelsicher… Das sind die ersten matres, das symbolische Herz des Ordens – so wie die siebenundzwanzig matres aus Fleisch und Blut seine Gebärmütter sind.
Bald werden es jedoch nur noch sechsundzwanzig sein. Maria Ludovica ist zwar nicht die älteste der matres, aber die schwächste. Sie liegt im Sterben, Lucia.« Im Dunkeln wirkten Rosas Augen riesig. »Die letzten zehn Jahre, in denen Maria immer schwächer geworden ist, waren eine turbulente Zeit, und es sind noch mehr Mädchen wie du aufgetaucht – Mädchen, die zu Frauen gereift sind, meine ich. Das ist nun mal der Lauf der Dinge. In nicht allzu ferner Zukunft muss jemand Maria ersetzen. Die Siebenundzwanzig muss wiederhergestellt werden.«
»Du sprichst von mir«, flüsterte Lucia.
»Ich habe eine Weile gebraucht, um gewisse andere davon zu überzeugen, dass du die richtige Kandidatin bist.« Rosa schien stolz zu sein, als hätte sie einen Sieg errungen.
Lucia war wie betäubt. Sie konnte sich nicht vorstellen, was aus Rosas Worten folgen würde. Sie sah keinerlei Verbindung zwischen ihrem fünfzehnjährigen Ich und der verhutzelten, schwangeren alten Frau, die sie kennen gelernt hatte. »Aber ich bin nichts«, sagte sie. »Noch vor einem Monat wäre ich beinahe verhungert, weil niemand mit mir sprechen wollte.«
»In gewissem Sinn hat mir dein – äh – Ausbruch geholfen, dich als die richtige Kandidatin durchzusetzen. Du
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