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Der Orden

Der Orden

Titel: Der Orden Kostenlos Bücher Online Lesen
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außerdem« – er machte eine Handbewegung zu dem grässlichen Körperteil – »sind wir nicht alle von Reliquien und Relikten fasziniert, von physischen Spuren des Früheren – selbst in unserem eigenen Leben? Ist denn nicht auch Ihre Suche von einem Zeugnis Ihrer Vergangenheit ausgelöst worden?«
    »Wissen Sie, man merkt, dass Sie Priester sind«, sagte ich ein wenig kläglich. »Als ich klein war, hat der Gemeindepfarrer noch die letzte Predigt aus solchen Analogien gesponnen.«
    Er lächelte. »Dann entschuldige ich mich für ihn und für mich.«
    »Und außerdem möchte ich nur meine Schwester finden. Ich habe das nie als ›Suche‹ in diesem Sinn betrachtet.«
    »Was soll es denn sonst sein?«
    Ich ließ den Blick durch die Kirche schweifen. Die Anwesenheit der Kirchgänger schüchterte mich irgendwie ein. »Haben Sie, ähm, ein Büro hier?«
    »Nein. Ich leite ein Projekt des Päpstlichen Instituts für Christliche Archäologie. Im Vatikan. Dort habe ich ein Büro. Vielleicht interessiert es Sie zu sehen, wo ich meine archäologischen Forschungen betreibe. Es ist nicht weit von hier.« Er rieb sich die Hände. »Aber zuerst gehen wir einen Happen essen.«
    Er wollte nicht auf meine Proteste hören, dass ich im Hotel bereits ein belegtes Brot gegessen hatte, und ließ sich auch nicht davon beirren, dass es schon nach drei war. Er ging mit mir in ein kleines Restaurant ein paar Schritte abseits der Hauptstraße, wo wir, wie er sagte, die beste cucina romanesca finden würden – das, was die Römer selbst aßen.
    Der beleibte, lächelnde Kellner trug ein unglaublich weißes Hemd und eine Fliege. Obwohl mir bei den Düften aus der Küche das Wasser im Munde zusammenlief, wusste ich, dass ich eigentlich nicht sehr hungrig war, und so begnügten wir uns beide mit tortellini alla Barcarola, einer heißen Hühnerbrühe mit kleinen Teigkringeln, die mit Schinken und Käse gefüllt waren, dazu Stangenbrot und einem Glas fruchtigem Weißwein. Es schmeckte köstlich, aber ich wusste, dass ich später davon müde werden würde.
    Bald stellte sich heraus, weshalb Claudio mich in Wahrheit zum Essen einladen wollte: um mir die Gehirnwindungen zu verdrehen.
    »Also«, begann er, während er seine Suppe löffelte, »Sie suchen Ihre Schwester. Aber es ist keine Suche.«
    »Es ist ein loses Ende«, sagte ich.
    »Aber wenn Sie an losen Enden ziehen, kann sich Ihr Pullover aufräufeln.« Er grinste über diesen Geistesblitz. »Es interessiert mich nur, weshalb Sie sie finden wollen.«
    »Der Tod meines Vaters. Ich habe das Gefühl, dass die ganze Sache erst vorbei ist, wenn ich Rosa gefunden habe.«
    »Aber was wollen Sie ihr sagen?«
    »Keine Ahnung, zum Teufel.«
    »Werden Sie über Ihren Vater reden?«
    »Wahrscheinlich. Was sonst?«
    Er legte den Löffel hin und sagte sanft: »Wissen Sie, ich glaube, Sie sind neugierig. Vielleicht sogar neidisch. Sie möchten verstehen, weshalb sie weggeschickt wurde – weshalb sie diese Chance bekommen hat oder in dieses Gefängnis gesteckt worden ist – und nicht Sie. Stimmt das? Aber im Grunde hätten Sie mit Ihrem Vater sprechen sollen.«
    »Dazu ist es ein bisschen zu spät«, fauchte ich. Ich hatte zu viele Jahre katholische Luft geatmet; nun merkte ich, wie tief sitzende Reaktionen auf das sanfte Bohren, die quasi natürliche Anmaßung moralischer Überlegenheit bei mir einsetzten. »Hören Sie – Claudio –, weshalb führen wir dieses Gespräch?«
    Er legte die Fingerspitzen über seiner Suppenschüssel aneinander. »Die Begegnung, die Sie planen, könnte sehr schmerzhaft sein. Ich habe solche Begegnungen bereits erlebt – zum Beispiel bei lange getrennten Flüchtlingen –, und glauben Sie mir, ich kenne mich damit aus. Die Information, die ich Ihnen geben soll, bereitet diese Begegnung vor. Ich glaube, dass ich mich meiner mitmenschlichen Verantwortung entzöge, wenn ich es nicht zur Sprache brächte.«
    »Soll das heißen, Sie wollen es mir nicht ermöglichen, mich mit Ihrer Kontaktperson beim Orden in Verbindung zu setzen?«
    »Oh, ich habe nichts dergleichen gesagt.« Andererseits wollte er mir noch nichts Näheres erzählen; wie es schien, musste ich noch mehr ungreifbare Hürden nehmen. »Was wissen Sie über den Orden?«
    »So gut wie nichts. Er betreibt Schulen und verkauft Informationen für Familienstammbäume.«
    »Und wofür halten Sie ihn?«
    Ich zögerte. »Ich glaube, es ist eine Art Kult. Deshalb ist er so geheimniskrämerisch, und deshalb ist Rosa einfach

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