Der Orden
– verschwunden.«
»Ein Kult.« Er dachte über das Wort nach. »Sie meinen das nicht abwertend, oder? Was für eine Art Kult, glauben Sie?«
Ich zuckte die Achseln. »Ein Marienkult. Das entnehme ich dem Namen.«
»Sie haben Recht, und Sie irren sich«, sagte er. »Die Gruppe hat tatsächlich die Form eines religiösen Ordens, aber es ist ein ungewöhnlicher Orden. Der Vatikan hatte immer Kontakte zu ihm, schon seit seiner Gründung. In Krisenzeiten in Roms langer Geschichte haben der Orden und der Vatikan sogar zusammengearbeitet.
Es ist jedenfalls kein Kloster: Auf dem Ordensgelände kommen Kinder zur Welt. In gewissem Sinne steht nicht Maria im Zentrum – nicht nur die Mutter, verstehen Sie –, sondern die Familie. Und in diesem Sinn ist er natürlich sehr italienisch. Italiener sind anders als Nordeuropäer, George. Wir sind ein sehr… äh… heimatgebundenes Volk. In England gehen die jungen Leute von zu Hause weg, sobald sie können – aufs College oder zur Arbeit. Hier bleiben die Menschen zu Hause. Die Familie bleibt intakt. Es ist nicht ungewöhnlich, dass mehrere Generationen von Erwachsenen unter einem Dach oder zumindest nah beieinander leben. Es gibt ein Wort – campanilismo –, die Treue zum eigenen campanile, dem Glockenturm.«
»Sie können doch keine solch verallgemeinernden Feststellungen über ein ganzes Volk treffen.«
»Natürlich nicht«, gab er leichthin zu. »Aber ich glaube, Sie werden in solchen Kategorien denken müssen, wenn Sie die Situation Ihrer Schwester verstehen wollen.«
»Das ist es also, was ich bei dem Orden finden werde?«
»Ich meine Folgendes: Der Orden ist wie eine Familie, aber eine sechzehnhundert Jahre alte Familie. Da gibt es sehr enge Bindungen, George. Sie werden feststellen, dass Ihre Schwester eine Familie gegen eine andere ausgetauscht hat – und es kann sein, dass sie diesen Tausch nicht rückgängig machen möchte.«
»Das Risiko nehme ich auf mich.«
Er spreizte die langen Pianistenfinger auf dem Tisch. »Die Entscheidung liegt bei Ihnen. Aber zuerst würde ich Ihnen gern mein archäologisches Projekt zeigen. Nein, ich bestehe darauf.« Er schnippte mit den Fingern; der Kellner erschien sofort.
Wie sich herausstellte, ging es bei seinem Projekt um eine kleine Kirche namens San Clemente. Sie lag ein paar Minuten entfernt, jenseits des Kolosseums. Als Claudios Gast brauchte ich keinen Eintritt zu bezahlen. Die Kirche sah innen wie außen wenig einladend aus.
»Aber«, sagte Claudio enthusiastisch, »sie ist eines der besten Beispiele für eine ›mehrschichtige‹ Kirche in Rom.« Damit meinte er ein Gebäude, das auf einem anderen errichtet worden war. Er führte mich durch die Schichten hinunter. Es war ein faszinierendes, unheimliches Erlebnis.
»Die Fassade stammt aus dem achtzehnten Jahrhundert. Dahinter befindet sich eine Basilika aus dem zwölften Jahrhundert. Hier ist ein ziemlich ungewöhnliches Mosaik aus dieser Zeit, das den Triumph des Kreuzes zeigt… Unter all dem haben wir jedoch eine Kirche aus noch früherer Zeit, dem vierten Jahrhundert. Ich arbeite mit einigen Dominikanermönchen an der Ausgrabung dieser Schicht.« Zum gegenwärtigen Zeitpunkt arbeitete hier allerdings niemand. »Und darunter wiederum ist ein Mithräum.« Ursprünglich war es wahrscheinlich ein Stadthaus aus der Kaiserzeit gewesen, das Anfang des dritten Jahrhunderts in einen Tempel für Mithras umgewandelt worden war, den Gott eines ausschließlich Männern vorbehaltenen Geheimkults. Eine Wand wurde von einem verblichenen Fresko geschmückt. Es zeige die Gemahlin eines Kaisers, sagte Claudio, sei jedoch später zu einem Porträt der Madonna mit Kind retuschiert worden. »Und wir glauben, dass darunter noch weitere Schichten zu entdecken sind…«
Er lächelte im Halbdunkel. »Schauen Sie sich um, George. Denken Sie an die tiefen historischen Schichten, die weit gespannte und immer wieder andere Nutzung allein dieser einen kleinen Kirche; und vergegenwärtigen Sie sich, wie wenig wir selbst von diesem kleinen Flecken Erde wissen. Rufen Sie sich des Weiteren ins Gedächtnis, dass Sie in Rom sind, wo alles von Geschichte getränkt ist, von Kontinuität durch Veränderung. Und dann denken Sie an den Orden. Ganz ähnlich wie der Vatikan ist auch der Orden in dieses Gewebe aus Geschichte und menschlicher Natur verwoben.«
Ich gewann allmählich den Eindruck, dass dieser wortgewandte Geistliche erheblich weniger entgegenkommend war, als er sich gab. Er
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