Der Orden
ihr: ein hoch gewachsener, imponierender, gut gekleideter junger Mann mit einem deutlich sichtbaren Schwert an der Taille, Sprössling einer der reicheren Familien der Stadt. Aber für die an die Ruhe der unterirdischen Gänge der Krypta gewöhnte Francesca war dies ein überfüllter, schmutziger, verwirrender Ort.
Und es war ein Ort des Wahnsinns, dachte sie plötzlich, einer großen Pest des Geistes: Menschen aus ganz Europa, die es hierher gezogen hatte, um schäbige Reliquien zu sehen und ihr Geld loszuwerden, alles um einer Idee willen, der großen, um sich greifenden Geisteskrankheit des Christentums. So wie sie in früheren Zeiten zweifellos vom Kolosseum oder den triumphalen Siegen der Cäsaren angezogen worden waren – anderen ansteckenden Ideen, die jetzt verschwunden waren wie der Morgentau.
Aber sie war fromm, und der Orden selbst war natürlich durch und durch christlich; es bestürzte sie, dass in ihr solche Zweifel keimten, und sie gab sich alle Mühe, sie aus ihrem Bewusstsein zu verdrängen.
Als sie aus dem Wohngebiet zum höher gelegenen Gelände der alten Hügel hinaufstiegen, erhaschte Francesca einen weiteren Blick über die Stadt. Sie sah, wie klein und beengt das dicht bevölkerte Gebiet war, das innerhalb des disabitato lag, der Fläche aus Buschland und Bauernhöfen, die den restlichen Platz innerhalb der alten Mauern einnahm. Hier und dort ragten Monumente der Kaiserzeit aus dem Grün, aber viele von ihnen waren vom Zahn der Zeit zernagt, von Belagerungswaffen zerstört, oder man hatte den Marmor abgebrochen und verbrannt, um Kalk zu gewinnen.
Jahrhunderte voller Konflikte lagen hinter ihnen, in denen Rom zum Schlachtfeld zwischen Päpsten und Antipäpsten sowie zwischen den Päpsten und den heiligen römischen Kaisern geworden war. Rom hatte einen schrecklichen Preis bezahlt. Doch nun hatte das Papsttum das Joch der germanischen Kaiser abgeworfen, und Rom erholte sich langsam. Auf dem höher gelegenen Gelände ragten die Villen und Paläste der Reichen mit ihren Türmen aus rotem, gebranntem Ziegelstein auf. Die Frangipanis hatten sogar eine Reihe von Türmen um den alten Circus Maximus herum errichtet, die Rennbahn der Kaiser.
Leo beobachtete sie.
Sie sah ihm an, was er dachte. Er versuchte, durch ihr bodenlanges Kleid, dessen Saum und Ärmel vom römischen Schmutz befleckt waren, die Konturen ihres Körpers zu erkennen. Er war ein gut aussehender Junge und mit seinen vierundzwanzig Jahren kaum älter als sie.
Sie verspürte eine angenehme Aufwallung von Wärme. Schließlich war sie eine Frau. Was indirekt der Grund dafür war, dass sie hier war.
»Wir sind hier, um übers Geschäft zu reden«, rief sie Leo sanft in Erinnerung.
»So ist es.« Er trat mit einem entschuldigenden Lächeln zurück und wandte den Blick ab.
»Habt Ihr Euch die Anteile an dem Land in Venedig gesichert?«
»Im Prinzip. Ich brauche nur noch die Anzahlung.«
Die Zeiten änderten sich – und Francesca hatte das instinktive Gefühl, dass der Orden sich mit ihnen ändern musste.
Im Lauf der Jahrhunderte hatte der Orden seine Wohltätigkeitsarbeit weiterentwickelt. In gewissem Sinn war sie jedoch ein Geschäft. Auf hundert Arme oder Unglückliche, denen der Orden half – so lautete der Erfahrungswert –, gab es immer einen, der später reich genug wurde, um den Säckel des Ordens mit einer größeren Spende zu füllen, weil er denen, die ihn gerettet hatten, als er ganz unten gewesen war, seine Dankbarkeit bezeugen wollte. Das Spiel erstreckte sich über lange Zeiträume, aber die Ausgaben für die Armen waren tatsächlich so gering, dass sich der Einsatz auszahlte. Es war ein Geschäft, genau wie Roms Touristenschöpfungsgewerbe – aber wenn es einem frommen Zweck diente, war es allemal ein lohnendes Geschäft.
Nun taten sich allerdings neue Möglichkeiten auf. Nach dem Tod des letzten römischen Kaisers waren ganze Völkerschaften auf Wanderung gegangen. Die großen und kleinen Städte in Westeuropa waren geschrumpft und von kleinen Weilern ersetzt worden; nur wenige Gemeinschaften hatten mehr als tausend Personen umfasst. Gegenwärtig setzten sich jedoch in ganz Europa landwirtschaftliche Neuerungen aus Germanien durch. Es entwickelten sich wieder größere Gemeinwesen - Venedig hatte angeblich schon über hunderttausend Einwohner –, und mit dieser Wiederbelebung gingen neue Möglichkeiten der Geldvermehrung einher.
Der Plan des jungen Leo war simpel: Er wollte Sumpf land in der Nähe von
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