Der Orden
desto stärker wurde der animalische Geruch. Es war, als beträte man einen Löwenkäfig.
Ich versuchte, einen klaren Kopf zu bewahren. »Die Arbeitskräfte hier kommen mir alle sehr jung vor«, sagte ich. »Kaum jemand scheint über fünfundzwanzig oder dreißig zu sein.«
»Tatsächlich sind die meisten hier älter.«
»Sie sehen aber nicht so aus.«
»Natürlich gibt es auch ein paar junge Leute. Lernen muss schließlich jeder. Aber die meisten jüngeren Mitglieder des Ordens arbeiten im Orkus.«
»Im Orkus?«
»Auf den tieferen Ebenen.«
»Es gibt tiefere Ebenen?«
Wir durchquerten einen Bibliotheksbereich. Die Bücher standen dicht an dicht, und die Regale liefen wie in manchen akademischen Archiven auf Schienen: In einem kompletten Raum war gerade genug Platz für einen einzigen Gang zwischen zwei Regalen, und man musste eine kleine Kurbel drehen, um sie hin und her zu fahren, bis man den gewünschten Zugang fand. Hier lagerte eine Menge Material. Ein Stück weiter waren Räume, die eher an Museumsabteilungen erinnerten und ungeheuer alt wirkende Manuskripte, Schriftrollen und Tontafeln enthielten, alle bei gedämpftem Licht isoliert und klimatisiert, viele in den Schubfächern verglaster Vitrinen.
Dieser Bereich heiße scrinium, sagte Rosa. So nannte der Orden das monumentale interne Archiv, das jetzt geöffnet worden war, um das Genealogiegeschäft im Internet anzukurbeln. Rosa zeigte mir Schränke voller etwas eselsohriger Karteikarten. Hier gebe es so viel Material, sagte sie, dass sogar die Karteien indexiert seien. Wir passierten ein Computerzentrum, hinter dessen geschlossenen Fenstern große Rechner summten. Erneut wurde mir bewusst, welche Macht und welcher Reichtum sich an diesem Ort konzentrierten.
Bevor wir das scrinium verließen, gab Rosa mir ein kleines Buch mit festem Einband. Wie sich herausstellte, war es die Geschichte von Regina, unserer römisch-britischen Vorfahrin. »Eine umfassendere Biografie als von jedem anderen Menschen der Antike, einschließlich der Caesaren«, prahlte Rosa. »Bettlektüre.«
Ein Stück weiter stießen wir zu meiner Überraschung auf Klassenräume, in denen Kinder, meist Mädchen, in ordentlichen Reihen saßen, in Gruppen an Pulten arbeiteten oder sich mit undurchsichtigen naturwissenschaftlichen Experimenten abplagten.
Rosa erklärte mir, dass nur wenige dieser Schülerinnen und Schüler zum Orden gehörten. Das Angebot einer hochwertigen Schulbildung für Außenstehende war die erste größere Geldquelle des Ordens gewesen – wobei »erste« im fünften Jahrhundert nach Christus bedeutete. Rosa zufolge gab es sogar so weit zurückreichende Buchhaltungsunterlagen, obwohl die ältesten Einträge nur von begrenztem Nutzen waren, weil sie der Erfindung der doppelten Buchführung fast um ein ganzes Jahrtausend vorausgingen.
»Wie unerfreulich«, murmelte ich.
Wir kamen an einem kleinen Theater vorbei, in dem eine Gruppe junger Teenager ein Stück probte.
Schulen. Ein Theater. Ein Theaterstück. Und das alles, nicht zu vergessen, tief unter der Erde, unter vierstöckigen Katakomben.
Wir gingen weiter.
Bei diesem ersten Besuch gelang es mir nicht einmal annähernd, die geografische Beschaffenheit der Krypta zu erfassen. Sie war ohnehin nicht für weite Blicke und Perspektiven konstruiert; sie war eher darauf angelegt, einem die Orientierung zu rauben, sodass man nicht mehr wusste, wo man sich befand.
Später stellte ich fest, dass die Krypta aus drei Ebenen bestand. Jede dieser Ebenen war noch einmal durch Zwischen- und Halbgeschosse unterteilt. Die Anlage war funktionell und veränderte sich permanent, den jeweiligen Bedürfnissen entsprechend, sodass die willkürlichen Trennungen zwischen den Sektoren verschwammen. All das trug natürlich dazu bei, dass sich niemand mehr ein klares Bild von ihrer geografischen Beschaffenheit machen konnte. Jedenfalls fand ich bei diesem ersten Mal nicht heraus, wie weit die sich verzweigenden Korridore mit den zahllosen von ihnen abgehenden Räumen führten; ich kam nie zu so etwas wie einer Außenwand, einer Kalktuffschicht wie in den Katakomben über mir. Immerhin erkannte ich, dass die Krypta riesig war.
Und sie war voller Menschen. Das fiel mir immer wieder von neuem auf.
Sie waren überall um mich herum, die ganze Zeit, wohin wir auch gingen. Sie schienen sich alle zu ähneln, mit ihren alterslosen, glatten Gesichtern, ihrer stämmigen, rundlichen Statur – und sie waren nicht groß; ich gehörte zu den
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