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Der Orden

Der Orden

Titel: Der Orden Kostenlos Bücher Online Lesen
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Größten dort, sodass ich über die Köpfe der Menge hinwegschaute. Und ich wurde in einem fort berührt: Sie streiften mich im Vorübergehen, und manchmal legte mir eine von ihnen die Hand auf die Schulter, während sie sich an mir vorbeizwängte. Dann war da dieser Geruch, dieser allgegenwärtige Löwengestank in dem Bau, aber auch etwas Subtileres, wenn eine von ihnen näher kam, die milchige Süße, die mir schon bei Rosa aufgefallen war.
    Und schließlich die Gesichter. Nachdem ich diesen ersten Gang betreten hatte, dauerte es ein paar Minuten, bis ich merkte, wie sehr die Menschen sich ähnelten. Sie sahen alle wie Rosa aus, also auch wie ich, mit ovalem Gesicht, breiter, flacher Nase – und den schiefergrauen Augen, die seit Generationen ein Kennzeichen unserer Familie waren. Sie umgaben mich von allen Seiten, Gesichter wie Spiegelbilder meines eigenen – wenn auch jünger, glatter, glücklicher. Es herrschte ein beständiger Lärm, aber niemand schien zu schreien, zu streiten oder andere anzurempeln; alle waren beschäftigt, aber niemand hatte es eilig oder war übermäßig gestresst. Trotz des Stimmengewirrs wirkte alles irgendwie ungeheuer ordentlich.
    Ich war verwirrt, verdutzt, von verblüffenden Eindrücken überwältigt. Aber so seltsam es erscheinen mag, ich fühlte mich nicht unwohl. Ordnung und Regelmäßigkeit haben mich schon immer angezogen – nicht unbedingt Kontrolle, aber Ruhe. Und dieser Ort war trotz seiner Fremdheit und oberflächlichen Fremdartigkeit im Kern ein tiefer Quell der Ruhe; das spürte ich sofort.
    Mein Gefühl sagte mir: Ich gehöre hierher.
    Rosa brachte mich zu einer Art Balkon. Es war ein seltener Aussichtspunkt, der einen Blick auf die Struktur zumindest eines Teils der Krypta bot, als schaute man von einem Obergeschoss in ein Einkaufszentrum hinunter. Rosa zeigte auf eine Reihe deckenloser Räume voller Etagenbetten: Schlafsäle. Weiter weg war ein klotziges Gebilde – eine Klinik, sagte sie. Wohin ich auch schaute, überall waren Menschen, die sich bewegten, arbeiteten, in kleinen Gruppen interagierten.
    Ich machte eine Handbewegung zu den wimmelnden Massen dort unten. »Es muss doch ein Kontrollzentrum geben. Irgendeine Verwaltungsstruktur.«
    »Kein Kontrollzentrum. Keine Brücke in diesem gewaltigen unterirdischen U-Boot.« Rosa beobachtete mich. »Wie geht es dir gerade? Denkst du an das ganze Gestein über dir? Fühlst du dich eingeschlossen, verloren?«
    »Bei Gott, ich bin in einer unterirdischen Stadt. Ich muss mir immer wieder ins Gedächtnis rufen, dass dies alles unter einem römischen Vorort in den Boden gegraben ist… Weißt du, ich sehe dich immer noch nicht so richtig klar, Rosa.«
    Sie ließ sich nicht aus der Fassung bringen. »Aber der Orden, das bin ich. Ich habe dir gesagt, das ist meine Familie – und deine. Wenn du das nicht erkennst, kannst du auch mich nicht erkennen. Wirfst du unseren Eltern, unserem Vater vor, dass sie mich weggeschickt haben, George? Gibst du ihnen die Schuld an dieser eigentümlichen Lücke in deinem Leben?«
    Ich runzelte die Stirn. »Ich weiß nicht genau.«
    »Ich mache ihnen keine Vorwürfe«, sagte sie entschieden. »Sie haben getan, was sie tun mussten, damit die Familie überleben konnte. Das verstehe ich jetzt, und ich glaube, ich habe es schon als Kind verstanden.« Ich fragte mich, ob das stimmen konnte. »Und außerdem, schau dich um. Ich habe nicht sonderlich gelitten, weil ich hierher gebracht worden bin.«
    Auf einmal ärgerte ich mich. Ich war schließlich nicht hergekommen, um diese riesige unterirdische Stadt zu sehen, sondern sie. Und meine Anwesenheit schien sie kaum zu beunruhigen. Das war mir zu wenig emotionale Reaktion. Ich wollte ihre Selbstzufriedenheit zerstören – wollte sie dazu bringen, mich zu sehen.
    Schon möglich, dass ihr keine Verletzungen zugefügt worden waren. Aber ich war verletzt worden, dachte ich.
     
    Ich hatte keine Ahnung, wie lange ich dort unten gewesen war. Irgendwann verspürte ich das dringende Bedürfnis, wieder ans Tageslicht zurückzukehren.
    Rosa erhob keine Einwände. Sie begleitete mich auf dem Rückweg durch den langen Korridor ins Vorzimmer und dann in die Katakomben hinauf. Allein stiegen wir in der immerwährenden Dunkelheit die vier Etagen nach oben, bis wir schließlich die letzte Treppe erklommen und aus dem düsteren Eingang der Katakombe ins Freie traten.
    Es war dunkel, stellte ich schockiert fest. Ich musste sechs, sieben, acht Stunden in dieser Grube

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