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Der Orden

Der Orden

Titel: Der Orden Kostenlos Bücher Online Lesen
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konnte ich die gegenüberliegende Bürowand sehen, eine viktorianische Ziegelwand, die von dem gewölbten Dach des alten Bahnhofsgebäudes gekrönt wurde. Jetzt fiel mir auf, wie solide das Mauerwerk im Vergleich zu dem meines Elternhauses war. In die Wand war eine Bahnhofsuhr mit einem Durchmesser von vielleicht zwei Metern eingelassen, eine halb durchsichtige Scheibe mit großen römischen Ziffern und zwei speerartigen Zeigern. Die verglaste Rückseite gab den Blick auf das noch funktionierende Uhrwerk frei. Die Vertriebsleute wollten Kunden damit beeindrucken. Ich starrte auf den großen Minutenzeiger, bis er zwei, drei, vier Minuten vorwärts gewackelt war. Die Uhr war ein Relikt aus vergangenen Zeiten, dachte ich, den Zeiten heroischer Ingenieurskunst. In meiner Familie hat es immer Ingenieure gegeben.
    Plötzlich fiel mir auf, wie jung hier alle waren – alle außer mir, heißt das. Keiner von ihnen interessierte sich für das Mauerwerk.
    Die große Bahnhofsuhr erreichte elf Uhr dreißig, und ich hatte den ganzen Vormittag über noch keinen Finger gerührt. Am Nachmittag, sagte ich mir, würde ich den guten Kampf wieder aufnehmen. Jetzt jedoch schaltete ich den Computer aus, nahm meine Jacke und verließ das Büro, um ein frühes und langes Mittagessen zu mir zu nehmen.
     
    Es war ein grauer Tag, ungewöhnlich kalt für Mitte September. Bei einem Prêt-à-manger kaufte ich mir einen kleinen Orangensaft und ein Sandwich mit Avocado und Schinken. Ich ging bis zu St. Katherine’s Dock, setzte mich dort auf eine Bank und aß.
    Dann ging ich unruhig, frierend und widerwillig zur Liverpool Street zurück.
    Unterwegs betrat ich aus einem spontanen Impuls heraus ein Cyber-Café. Trotz der Tageszeit war es halb leer, und die Gäste aßen oder unterhielten sich miteinander, statt sich einzuloggen. Ich holte mir mein Zeitkontingent und einen großen Latte und setzte mich an ein freies Terminal, so weit entfernt von allen anderen wie möglich.
    Ich loggte mich in mein E-Mail-Konto zu Hause ein, ging zu einer Suchmaschine und tippte »Maria Königin Jungfrauen« in die Eingabezeile.
    Natürlich hätte ich das auf der Arbeit machen können; die meisten hätten es vermutlich getan. Doch mein strenges, wenn auch nutzloses Rechtsempfinden verhinderte das. Ich hatte mich noch nie wohl dabei gefühlt, wenn ich mir Ressourcen der Firma aneignete, von Computerzeit bis zu Heftklammern; mir war immer bewusst gewesen, dass letzten Endes irgendjemand irgendwo ein bisschen härter arbeiten musste, um meinen schäbigen Diebstahl wettzumachen. Vielleicht lag es aber auch nur daran, dass ich meine Privatangelegenheiten aus dem Büro fern halten wollte.
    Die meisten Suchergebnisse waren unbrauchbar: auf Anhieb erkennbare Spinner-Websites, von religiösen Wirrköpfen der einen oder anderen Art ins Netz gestellt, eine erstaunliche Anzahl von Kirchen mit ähnlichen Namen und das übliche irritierende Allerlei jener Highschools und Colleges, die die asoziale Angewohnheit entwickelt haben, den Inhalt sämtlicher Seminar- und Unterrichtsmaterialen ins Internet zu stellen und damit jeder bisher entwickelten Suchmaschine Rätsel aufzugeben. Ich überging das meiste von diesem Zeug. Mit ziemlicher Sicherheit konnte ich alles außerhalb Europas überspringen – ja sogar außerhalb der Euro-Währungszone, denn ich wusste, dass mein Vater einmal Euros geschickt hatte.
    Schließlich stieß ich auf eine Website größeren Kalibers. »DER MÄCHTIGE ORDEN DER HEILIGEN MARIA, KÖNIGIN DER JUNGFRAUEN über uns – Informationen – Kontakt – Site Map – Genealogie -Material…« Die URL zeigte, dass sie in Italien beheimatet war.
    Ich klickte auf den Link und bekam einen Begrüßungsbildschirm zu sehen. Den Hintergrund unter den Texten und Icons bildete das Gesicht der Madonna aus einem mir unbekannten mittelalterlichen Gemälde, ein schönes, trauriges, unmöglich junges Antlitz. Daneben war eine Art Firmen-Logo, ein chromfarbenes Knäuel – vielleicht ein erweitertes Unendlichkeitssymbol oder die Silhouetten zweier einander zugewandter Fische. Die Hintergrundfarben waren Hellblau und Weiß, Farben, die ich immer mit den Marienstatuen meiner Mutter verbunden hatte; allein der Anblick dieses Bildschirms hatte eine seltsam beruhigende Wirkung auf mich, ich fühlte mich irgendwie zu Hause. So wie zweifellos jeder andere katholische Junge irgendwo auf der Welt, der sich hier einloggte.
    Ich stöberte auf der Website herum. Es gab jede Menge lächelnder

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