Der Orden
Frauengesichter und schöner alter Gebäude zu sehen. Das Design war unruhig, dachte ich mit meinem Software-Profi-Blick, aber die Website wirkte sehr umfassend; man konnte verschiedene Sprachen wählen, Englisch (die Grundeinstellung), Italienisch, Spanisch, Französisch, Deutsch und sogar Japanisch, Chinesisch und mehrere arabische Sprachen.
Bei dem Orden schien es sich um eine alte katholische Gruppierung zu handeln, die in Rom ansässig war. Sie verdiente Geld mit einem gebührenpflichtigen genealogischen Service – ähnlich dem auf der berühmten Mormonen-Website, zu der es ein paar Links gab, aber womöglich noch umfangreicher. Da ich mich von einer Adresse in England aus eingeloggt hatte, wurde mir diverses Material mit Schwerpunkt Großbritannien angeboten, darunter auch eine Datenbank mit Urkunden aus den Jahren 1400 bis 1900, fünfhundert Karten des Vereinigten Königreichs, Irlands und Europas, eine Urkunde mit fürstlichen Ahnentafeln, die bis ins dreizehnte Jahrhundert zurückreichten, und Informationen aus Volkszählungen bis zum Ende des zwanzigsten Jahrhunderts. Es gab sogar eine Passagierliste der Titanic. Sie hatten dreihundertfünfzig Millionen Namen indexiert und über einen Zeitraum von fünfhundert Jahren mit Querverweisen versehen, prahlten die Popups.
Ich überflog das meiste und fragte mich, was es mit meinem Vater zu tun hatte. Meines Wissens hatte er sich nie besonders für Stammbäume interessiert – und wenn ihm diese Dienstleistungen tausend Pfund pro Monat wert gewesen waren, dann hatte er dafür jedenfalls nichts vorzuweisen gehabt.
Dann blieb mein Blick jedoch an einer Nutzer-ID in der Kontaktzeile hängen: casella24. Der Mädchenname meiner Mutter war Casella gewesen.
Ich setzte rasch eine E-Mail ab, in der ich casella24 über den Tod meines Vaters informierte und um Einzelheiten über seine Kontakte zu dem Orden bat. Immer vorausgesetzt, ich war an der richtigen Adresse.
Ich trank meinen Kaffee aus, loggte mich aus und machte mich auf den Rückweg zur Arbeit.
Am Ende des Nachmittags lud mich Vivian auf den versprochenen Drink ein.
Wir gingen in eine Bar in der Nähe der Liverpool Street. Der Laden hieß Sphinx und war im Laufe meines Arbeitslebens in London mehrfach umgebaut worden. Gegenwärtig war er mit mattgelb gestrichenem, falschem Mauerwerk dekoriert und auf bitteren ägyptischen Kaffee spezialisiert. Auf dem Fußboden lag sogar loser Sand. Aber irgendwie funktionierte das Ambiente.
Über dem langen Tresen hingen mehrere Fernseher. In den meisten lief Musik oder Sport, und irgendwo klimperte ein Popsong. Ein Bildschirm war jedoch auf einen Nachrichtenkanal geschaltet. Die Nachrichtensprecherin war ein Mädchen mit schmerzhaft schönem Gesicht, und ich erkannte das Bild über ihrer Schulter wieder: Es zeigte den im Kuiper-Gürtel gefundenen, glänzenden Tetraeder. Offenbar war die Anomalie noch immer eine Meldung wert, selbst Tage nach meinem Gespräch mit Peter. Bei ihrem erneuten Anblick verspürte ich eine vage Überraschung. Die Assoziation rief unerwünschte Erinnerungen an Manchester wach.
Vivian bestellte mir eine Flasche Bier und sich ein Glas Weißwein der Hausmarke. Sie trank ein paar kleine Schlucke und erkundigte sich nach der Beerdigung. Ich versuchte, ihr etwas von der Verwirrung in meinem Innern zu erzählen.
»Midlife-Krise«, sagte sie sofort. »Willkommen im einundzwanzigsten Jahrhundert.«
»Ich habe mich immer aufs einundzwanzigste Jahrhundert gefreut. Ich hatte nur nicht damit gerechnet, dass ich darin alt sein würde. Ich meine, schau dir doch bloß mal diese Arschlöcher an…«
Das Völkchen in der Bar war eine typische Londoner Nichtgemeinschaft. An den verstreuten Tischen auf dem Sandboden saßen ein paar Grüppchen, aber sehr viele Leute hockten allein an den Tischen oder am Tresen oder liefen herum – das heißt, allein bis auf ihre Handys, mit denen sie unablässig beschäftigt waren.
»So jung und so verdammt arrogant, als ob ihnen der Laden gehören würde. Sie laufen rum, als wäre London erst gestern erbaut worden, als ihr privater Spielplatz. Und wie sie an diesen verdammten Handys rumfingern.« Ich ahmte die Texteingabe nach. »Noch ein paar Jahre, dann kommen hirnlose Kinder zur Welt, die bloß aus riesigen Daumen bestehen und auf Fingergelenken hüpfen.«
»Nun mach mal halblang, George«, sagte Vivian in ihrer gelassenen, gut gelaunten Art. »Aber mit den Handys hast du vielleicht Recht. Ist schon eine komische
Weitere Kostenlose Bücher