Der Orden
Lebensweise, die realen Menschen um einen herum zu ignorieren und dafür Kontakt zu Freunden aufzunehmen, die vielleicht hunderte von Kilometern entfernt sind. Man sollte meinen, die neue Technik würde uns zusammenbringen. Stattdessen scheint sie uns zu trennen.«
Deswegen unterhielt ich mich immer so gern mit Vivian. Ich kannte sonst niemanden, der solche Bemerkungen machte.
Sie war eine stämmige Frau, deren stets ein wenig zerknitterte Kostüme zeigten, dass sie sich nicht allzu ernst nahm. Sie sah gesund aus; ich wusste, dass sie ins Fitnesscenter ging, und als Mutter zweier kleiner Töchter litt sie auch zu Hause bestimmt nicht unter Bewegungsmangel. Sie trug eine Kurzhaarfrisur über einem breiten Gesicht mit kleiner, flacher Nase und hellbraunen Augen, hatte weder Wangen noch Kinn und wäre höchstens von einem Liebhaber als schön bezeichnet worden, aber ihr offener, humorvoller Blick hatte mir schon immer gesagt, dass ich es mit einer in sich gefestigten, bodenständigen Persönlichkeit zu tun hatte. Mit anderen Worten: Sie war eines der wenigen menschlichen Wesen, die durch Hyfs Rekrutierungsfilter geschlüpft waren.
»Mein Vater hatte nie ein Handy«, sagte ich. »Er meinte, er brauchte keins, obwohl ich ihm eins besorgen wollte – für Notfälle. Falls er hinfallen würde, weißt du… Er besaß auch keinen Computer. Aber seinen DVD-Player hat er freudig benutzt.«
»Dann war er also kein Luddit wie du«, meinte sie.
»Nein. Er war bloß wählerisch.«
Sie ließ den Wein in ihrem Glas kreisen. »Meine Eltern sind vor ein paar Jahren gestorben. Genauer gesagt, vor zehn Jahren.«
»Wie?«
»Autounfall. Es war eine echte Katastrophe, alles zu regeln, weil sie gemeinsam gestorben sind. Ihr Testament war nicht mehr aktuell… Na ja. Ich glaube, ich weiß, wie deine Schwester sich fühlt. Ich wollte damals einfach nur vor der ganzen Sache weglaufen. Aber komischerweise war es letztendlich doch keine gar so schlechte Zeit. Man rückt näher zusammen, weißt du.«
Ich tippte mit dem Daumennagel auf das Folienetikett der Flasche. »Du willst mir doch keine Ratschläge erteilen, Viv, oder?«
»Nein. Ich erzähle dir nur, wie ich mich gefühlt habe.«
»Aber das war was anderes. Du warst noch jünger. Ich fühle mich – Scheiße, ich fühle mich auf einmal alt. Jetzt, wo er tot ist, kommt’s mir so vor, als stünde meine Generation nackt und bloß da, alterstechnisch gesehen. Weißt du, was ich meine?«
Sie lachte. »Und was willst du nun tun?«
Ich schnaubte. »Was kann ich schon tun? Ich sitze in der Falle.«
»Wovon sprichst du?«
»Von meiner Routine. Von meinen Entscheidungen, egal ob gut oder schlecht, die mich hierher gebracht haben. Von meiner zunehmenden Trägheit.« Ich klopfte mir mit der flachen Hand auf den Bauch. »Von dem hier. Davon, dass ich außer Atem komme und morgens Schmerzen habe. Sogar davon, dass ich von zwei Flaschen Bier zum Mittagessen blau werde. Ich selbst bin die Falle.«
»Man hat immer eine Wahl, George.« Sie stellte ihr Glas auf den Tisch und beugte sich zu mir herüber, zerknittert, freundlich und ernst. »Vorhin habe ich dir keine Ratschläge erteilt, aber jetzt tue ich es. Ich glaube, du musst die abgerissenen Verbindungen wieder herstellen. Ich bin hingefahren und habe mich dem gestellt, was Mum und Dad zugestoßen ist.«
»Ich bin auch hingefahren.«
»Tja, ich glaube, bei dir ist noch mehr nötig. Nimm dir ein bisschen frei. Du hast doch bestimmt noch Anspruch auf Urlaub. Und für eine Weile würde man dich nicht vermissen«, sagte sie trocken. »Vielleicht redest du mal mit… äh…«
»Linda?« Meine Ex-Frau. Wir hatten uns scheiden lassen, bevor ich zu Hyf gekommen war; Vivian hatte sie nicht mehr kennen gelernt. »Ich glaube nicht.«
»Sie kennt dich sicher besser als jeder andere. Oder besuch deine Schwester in Texas.«
»Florida.«
»Wo auch immer. Verwöhn deine Neffen ein bisschen.« Sie schnippte mit den Fingern. »Warum gehst du nicht dieser Sache mit deiner vermissten Schwester nach?« Ich hatte ihr davon erzählt. »Die Lösung eines kleinen Geheimnisses als Aufgabe für dein analytisches Gehirn – und nette, tiefe Familienbande zur Beruhigung für dein Herz…«
Mir war unbehaglich zumute. »Da ist wahrscheinlich nichts dran. Vielleicht wurde sie ja zur Adoption freigegeben.«
»Aus welchem Grund?«
»Vielleicht ist sie auch gestorben«, sagte ich brutal. »Und sie wollten mich schonen.«
»Selbst wenn«, sagte sie sanft, »du
Weitere Kostenlose Bücher