Der Orden
willst es doch sicher erfahren.«
»Ich weiß ja nicht mal, wo ich anfangen sollte.«
»Frag deine Schwester in Florida. Wie alt war sie noch gleich – drei Jahre älter? Sie müsste etwas wissen. Und wenn das Kind auf dem Foto drei oder vier war, dann ist es womöglich irgendwo zur Schule gegangen. Vielleicht auf eine private Vorschule.«
»Aber auf welche?«
»Ich würde mit der anfangen, die deine ältere Schwester besucht hat.« Sie trommelte mit den Fingernägeln auf die Tischplatte. »Komm schon, George, reiß dich zusammen; setz dein Gehirn wieder in Gang.«
»Aber es ist alles so ein Schlamassel, Viv. Herrje, Familien. Sie haben mich mein Leben lang angelogen. Sogar Gina!«
»Ungeklärte Angelegenheiten«, sagte sie. »Dann kläre sie. Stell die Verbindung zur Vergangenheit wieder her.« In ihrer Stimme lag jetzt eine gewisse Schärfe. Du hast alles Mitgefühl von dieser Welt bekommen, das du kriegen wirst, George; hör auf zu jammern.
»Weißt du, Peter hat fast genau das Gleiche gesagt. Dass ich ›mir die Vergangenheit wieder aneignen‹ soll.«
Sie runzelte die Stirn. »Wer ist Peter?«
In diesem Moment fiel mein Blick auf den Fernsehschirm mit dem Nachrichtenkanal. Die hübsche Nachrichtensprecherin war verschwunden, aber das Bild der Kuiper-Anomalie war noch zu sehen. Und direkt daneben prangte ein klobiges Gesicht mit hoher Stirn, dessen Mund in hohem Tempo Worte ausspie. Es war Peter McLachlan.
Ich zeigte hin. »Der da«, sagte ich.
5
Regina durfte bei der Salbung ihres toten Vaters dabei sein. Cartumandua hielt sie fest an der Hand.
Jovian berührte die Augen des Toten und schloss sie formell. Jovian war Reginas Onkel aus Durnovaria, der Bruder ihres Vaters. Er war ein massiger, trauriger Mann, ein Bronzearbeiter mit großen, von Spritzern flüssigen Metalls zernarbten Händen, und er trug eine phrygische Mütze, genau wie ihr Vater früher. Während der Leichnam gewaschen und gesalbt wurde, stand Jovian über ihm und sang ein leises lateinisches Klagelied. Kräftige Gerüche erfüllten die Luft wie sehr starkes Parfüm. Regina wusste jedoch, dass der Körper ihres Vaters bereits gereinigt worden war, denn von dem Blut, das sie zuvor gesehen hatte, war keine Spur mehr zu entdecken.
Nach der Reinigung wurde Marcus mit seiner Toga bekleidet. Mehrere Männer mussten ihn hochheben, während ihm das wollene Tuch umgelegt wurde, denn sein Körper war steif, und seine Gliedmaßen ähnelten Holzstöcken.
Anschließend formierte sich der Leichenzug. Acht Männer trugen Marcus auf einer Art Bahre. Musiker gingen vor ihm her. Sie spielten Doppelpfeifen und eine cornu, ein gebogenes, trompetenartiges Instrument mit süßem, traurigem Klang. Alle anderen, auch Regina, mussten hinterhergehen. Im Licht von Kerzen und Laternen verließ die Prozession das Gelände der Villa und zog auf einem festgetretenen Weg durch die Felder.
Unterwegs erhaschte Regina zum ersten Mal an diesem Tag einen Blick auf das Gesicht ihrer Mutter. Mit ihrem frisierten Haar und dem makellosen Kleid sah Julia so elegant aus wie immer, aber sie hielt ihr Gesicht unter einem parfümierten Tuch verborgen. Regina wollte zu ihr laufen, doch Carta ließ ihre Hand nicht los.
Sie erreichten das Mausoleum, ein kleines, tempelartiges Steingebäude. Hier gab es nur drei Grabsteine, jeweils einen für Reginas Großvater und Großmutter, die Eltern ihres Vaters – und eine kleine, ergreifende Tafel, zum Gedenken an den Säuglingstod eines Mädchens, das Marcus und Julia einige Jahre vor Reginas Geburt bekommen hatten und das im ersten Lebensmonat einer Hustenkrankheit erlegen war. Dem Grabmal zufolge war es das »liebste Kind« gewesen. Regina hätte gern gewusst, ob man ihrer Schwester Spielzeug ins Grab gelegt hatte, mit dem sie in ihrem Leben nach dem Tod spielen konnte.
Für Marcus war schon ein Sarg in den Boden hinabgelassen worden. Die Seiten des Bleikastens waren kunstvoll mit Muscheln verziert, einem Meeresmotiv, das den Übergang ins Leben nach dem Tod symbolisieren sollte.
Carta murmelte beruhigende, sinnlose Worte. Aber Regina verspürte keinen Kummer. Diese kleine Szene mit den um eine Grube versammelten Laternen, Musikern und Trauernden war so seltsam, dass sie nicht beunruhigend wirkte. Und außerdem schien das ungeschlachte Ding auf der Bahre nichts mit ihrem Vater gemein zu haben.
Jovian legte seinem Bruder eine Münze – einen ganzen solidus – in den Mund, als Bezahlung für den Fährmann. Dann wurde
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