Der Orden
eine Menge Zeit erfordern?«
Er hob die Schultern. »Ich bin kein Fachmann. Aber die fünfzehnhundert Jahre seit Regina haben für sechzig, siebzig, achtzig oder vielleicht sogar noch mehr Generationen gereicht. Dabei haben großenteils wohl keine sehr grundlegenden Veränderungen stattgefunden; nur die Entwicklungen im Körper sind zeitlich angepasst worden. Der Evolution fallen solche Veränderungen leicht – da brauchen nur ein paar Schalter umgelegt zu werden, statt dass man den ganzen Prozessor neu verdrahten muss. Die Evolution kann manchmal mit erstaunlicher Geschwindigkeit arbeiten.
Schau dir all die einzelnen Elemente zusammen an. Da sind die vielen Generationen, die ihre Ressourcen und die Fürsorge für die Jungen teilen. Da sind die Fortpflanzungsabteilungen – die sterilen Arbeiterinnen. Es gibt niemanden, der die Macht hat, nur lokale Akteure und Rückkopplung. Und wenn du dir dann die Geschichte des Ordens ansiehst, hat er dasselbe getan wie Ameisenkolonien: Er hat sich auszudehnen versucht, er hat andere Gruppen angegriffen. Du hast sogar ›Selbstmorde‹ – spektakuläre Opfer, bei denen die Arbeiterinnen ihr Leben hingeben, damit ihr genetisches Erbe erhalten bleibt: Ich habe dir erzählt, was passiert ist, als die Krypta während der Plünderung Roms aufgebrochen wurde. Man könnte sogar behaupten, dass all die äußeren ›Helfer‹, die ›Familienangehörigen‹ in aller Welt, die dem Orden Geld und neue Mitglieder schicken, auch zum Orden gehören, wie die Futter suchenden Ameisen – obwohl sie es natürlich nicht wissen.
Und hör dir das an. Ameisen tragen ihre Toten nach draußen und legen sie in einen Kreis, weitab vom Nest. Ich habe die Beerdigungen verzeichnet, die über die Jahrhunderte hinweg mit dem Orden in Verbindung gebracht wurden. Sie bilden einen Kreis… Ich habe eine Karte.«
»Ich will sie nicht sehen.«
»Ich glaube, Regina war so etwas wie ein Genie, George.
Vielleicht ein idiot savant. Natürlich hatte sie nicht das Vokabular, um es auszudrücken, aber auf irgendeiner instinktiven Ebene hat sie eindeutig begriffen, was Emergenz und vielleicht sogar Eusozialität sind. Man sieht es in ihrer Biografie – die Passagen, wo sie in Rom herumläuft und feststellt, wie planlos alles ist, dass sich jedoch trotzdem Muster herausgebildet haben. Und sie hat versucht, ihre Familie mithilfe dieser Erkenntnis zu schützen. Sie dachte, sie würde eine Gemeinschaft gründen, um ihre Blutlinie zu schützen, das Erbe einer goldenen Vergangenheit. Nun, das ist ihr gelungen, aber nicht so, wie sie es sich vorgestellt hat.
Der Orden ist keine menschliche Gemeinschaft, George, jedenfalls nicht nach unserem bisherigen Verständnis. Der Orden ist ein Schwarm. Ein menschlicher Schwarm – vielleicht der erste seiner Art.« Er schmunzelte. »Wir haben immer gedacht, man brauchte Telepathie, um Seelen zu vereinigen, um Menschen zu einem Gruppenorganismus zu verbinden. Tja, wir haben uns geirrt. Man braucht nur Menschen – und Emergenz.«
»Peter…«
Er hob sein breites Gesicht in das Licht, das durchs Fenster hereinfiel. »Da sind wir tatsächlich über eine aufregende Perspektive gestolpert, George. Eine neue Art Mensch vielleicht? Ein eusozialer Mensch. Ich nenne ihn ›Koaleszent‹…«
Das Bier lag schwer in meinem Magen. Auf einmal verspürte ich das dringende Bedürfnis, aus dieser verräucherten Bar herauszukommen – aus dieser ganzen lärmigen, überfüllten Stadt –, weg von Peter und seinen verrückten Ideen und von dem Orden, der im Zentrum von allem stand.
Peter wollte unbedingt, dass ich es verstand, dass ich es glaubte, dass ich es sah. Aber ich wollte es nicht glauben; ich wollte es nicht wissen. Ich schüttelte den Kopf.
»Selbst wenn du Recht hast«, sagte ich, »was wollen wir unternehmen?«
Er lächelte, aber es war ein kaltes Lächeln. »Tja, das ist die Frage. Es hat keinen Sinn, mit Rosa oder sonstwem da drin zu verhandeln, weil sie nicht die Macht hat. Der Organismus, mit dem wir es zu tun haben, ist tatsächlich das Kollektiv – der Orden –, der Schwarm, der aus den Interaktionen der Koaleszenten entsteht.«
»Wie verhandelt man mit einem Ameisenhaufen?«
»Keine Ahnung«, sagte er. »Aber zuerst müssen wir uns darüber klar werden, was wir von ihm wollen.«
Sein Handy klingelte unangenehm laut. Er hob es auf, warf einen Blick auf den Bildschirm und erbleichte. »Entschuldige«, stieß er hervor.
Er sammelte seine Sachen auf und eilte aus der
Weitere Kostenlose Bücher