Der Orden
Weg durch stillere, dunklere Korridore. Ich spürte, dass wir uns aus dem Zentrum des weitläufigen Komplexes entfernten und in Bereiche vordrangen, die ich noch nicht gesehen hatte. Vielleicht war der von Peter benutzte Ventilationsschacht alt, längst aufgegeben und unbewacht.
Schließlich gelangten wir zu einer Wand. Sie war nicht aus Beton und auch keine innere Trennwand, sondern bestand aus Kalktuff, ehrlicher, massiver Lava. Ich strich mit der Hand darüber. Es war ein seltsam beruhigender Gedanke, nicht mehr im Zentrum der Dinge zu sein – jenseits meiner Hand waren keine weiteren Galerien und Räume, keine weiteren Menschen mehr, sondern nur noch eine ungeheure Masse geduldigen, schweigenden Gesteins.
Ein Menschenknäuel, alles Mitglieder des Ordens, drängte sich vor einer Spalte in der Felswand. Als sie sich im spärlichen, matten Licht der unelegant an die Kalktuffwand geschraubten Neonlampen zu uns umschauten, schienen ihre nahezu identischen Gesichter körperlos im Halbdunkel zu schweben. Ich kannte keinen von ihnen. Es waren zehn – darunter nur ein einziger Mann –, aber sie wirkten alle groß und kräftig in ihren Kitteln. Sie waren hier, um körperliche Arbeit zu tun, dachte ich, vielleicht, um Peter zu Boden zu zwingen.
Und sie waren alt, stellte ich schockiert fest; mit Krähenfüßen an den Augen und eingefallenen Wangen wiesen sie alle weitaus mehr sichtbare Zeichen des Alters auf, als ich bisher in der Krypta gesehen hatte. Beklommen dachte ich an Peters Geschichten von alten Ameisensoldaten und von Mullen, die den Schakalen geopfert wurden; es war eine weitere unwillkommene Parallele.
Rosa sprach energisch mit diesen Wachleuten und kam dann zu mir zurück. »Er ist immer noch da drin.«
»Wo?«
Sie reckte den Daumen zu der Spalte im Gestein.
Ich ging an ihr vorbei, um es mir anzusehen. Die Spalte war ein Riss im Kalktuff, kaum groß genug, dass ich mich seitlich hätte hineinquetschen können. Sie sah aus, als wäre sie durch ein leichtes Erdbeben entstanden und dann durch Sickerwasser erweitert worden. Der Lichtschein der an den Wänden befestigten Lampen reichte nicht sehr weit, und ich legte die Hände um die Augen und spähte in die stille Schwärze.
Auf einmal flammte vor meiner Nase ein grelles Licht auf. Ich sprang zurück und rieb mir die Augen. »Au. Verdammt.«
Eine süffisante Stimme hallte mir hohl aus der Spalte entgegen. »Na, das hat aber gedauert.«
»Hallo, Kumpel. Wie bist du denn da reingekommen?«
»Sagen wir mal, es war nicht leicht«, antwortete er gnomisch.
»Und was machst du da drin?«
»Die Zukunft retten.«
»Wir kriegen ihn nicht raus«, erklärte mir Rosa. »Die Spalte ist zu eng. Wir wissen noch nicht, wie er hineingekommen ist – vermutlich von oben. Wir könnten ein oder zwei Leute von vorne zu ihm reinschicken, aber sie kämen nicht hinter ihn, um ihn rauszuholen. Und außerdem befürchten wir, dass er sie verletzen könnte.«
Ich runzelte die Stirn. »Sie verletzen? Wie denn? Glaubst du, er sitzt da mit einem Revolver drin?«
»Denk an San Jose«, sagte Rosa mit schwerer Stimme.
»Hör mal, Rosa, ich weiß nicht, weshalb er in einem Loch im Stein festsitzt. Aber ich verstehe nicht, was er euch da drin zu Leide tun kann. Ich meine, ihr braucht doch nur ein paar Stunden oder meinetwegen Tage zu warten, dann treibt ihn der Hunger raus. Wahrscheinlich bleibt euch sowieso gar nichts anderes übrig, wenn er den Spalt durch diese Lücke verlassen soll.«
»Das ist nicht komisch, George.«
»Nein?« Ich schwebte wie auf Wolken.
»Sprich mit ihm. Du behauptest, er sei dein Freund. Schön. Finde heraus, was er hier macht, was er will, was er vorhat. Und dann finde einen Weg, um diese Situation zu bereinigen. Denn wenn du es nicht tust, mache ich es.«
Ich versuchte zu verstehen, wie sie das meinte. »Willst du die Polizei rufen?… Nein, nicht wahr? Ebenso wenig wie das FBI oder Interpol. Du willst sie nicht in die Krypta holen, trotz der Gefahr, die er in deinen Augen darstellt. Was hast du vor, Rosa?«
»Ich bin verantwortlich für die Sicherheit der Krypta«, sagte sie in ruhigem Ton. »So wie jedes andere Mitglied des Ordens auch. Ich werde tun, was erforderlich ist, um diese Sicherheit zu gewährleisten, ganz egal, was es kostet. Ich schlage vor, du sorgst dafür, dass es nicht dazu kommt.« Im Halbdunkel war ihr Gesicht hart und unbewegt – beinahe fanatisch. Ich fand, dass sie mir oder meinen Eltern noch nie so wenig ähnlich gesehen
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