Der Orden
die Villa einem Verwalter anvertraut hat.«
»Ach, in diesen Zeiten weiß man nie so genau«, erwiderte Regina.
Carta kicherte mädchenhaft. »O je. Du hörst dich an wie eine alte Frau! Du kannst dich darauf verlassen, dass dein Großvater sich um den Familienbesitz kümmert. Er ist ein guter Mann, und die Familie bedeutet ihm alles. Du bedeutest ihm alles… Macht er sich keine Sorgen um dich? Vielleicht sollte ich ihm eine Nachricht schicken.«
Regina zuckte die Achseln. »Soll er sich doch Sorgen machen. Er hätte mir von der Blutung erzählen sollen.«
Carta schnaubte. »Ich glaube, da würde er lieber tausend blaugesichtigen Pikten gegenübertreten.«
»Jedenfalls hat er gesehen, wohin ich gelaufen bin. Wenn er sich Sorgen macht, wird er mich schon holen kommen.«
Carta nippte an ihrem Tee. »Er kommt nicht oft hierher, in den Schatten des Walls.«
»Warum nicht?«
»Er gehört nicht hierher. Schon allein, weil er älter ist als alle anderen.«
»Was? Das kann nicht stimmen.«
»Überleg mal«, sagte Carta und musterte sie. »Du kennst doch eine Menge Leute hier. Du bist hier beliebt, so wie überall! Wie viele Männer über vierzig kennst du? Wie viele Frauen über fünfunddreißig?«
Keine, dachte Regina schockiert – obwohl sie sicher war, dass es im Freundeskreis ihrer Eltern zahlreiche noch viel ältere Leute mit Runzeln und weißen Haaren gegeben hatte, den Merkmalen des Alters.
»Woran liegt das?«
Carta lachte. »Daran, dass wir nicht in Villen leben. Dass wir keine Diener und Sklaven haben, die uns die Zähne putzen. Wir müssen hart arbeiten, und zwar von früh bis spät. So ist das nun mal, meine kleine Regina. Nur die Reichen werden alt.«
Regina runzelte die Stirn. Sie mochte es selbst jetzt noch nicht, wenn eine Sklavin – und sei es eine ehemalige Sklavin, ja sogar Carta – so mit ihr redete. »Wir brauchen uns nicht für das Leben zu schämen, das wir geführt haben«, erwiderte sie hitzig. »Unsere Familie war zivilisiert, nach Art der Römer.«
Zu ihrer Überraschung sah Cartumandua sie kalt an. »›Allmählich gab man sich dem verweichlichenden Einfluss des Lasters hin: Säulenhallen, Bädern und erlesenen Gelagen‹«, zitierte sie. »›Und so etwas hieß bei den Ahnungslosen Lebenskultur, während es doch nur ein Bestandteil der Knechtschaft war.‹«
»Von wem stammt das?«
»Von Tacitus. Du bist nicht die Einzige, die lesen lernt, Regina.« Sie stand auf, ging zu ihrem Kessel und prüfte mit einem langen Eisenspieß ihre Schweinelende.
Es war Abend, ein paar Tage nach Reginas demütigendem Erlebnis auf dem Wall. In stockendem Latein las sie bei Kerzenschein aus den Texten des Historikers Tacitus vor. »›Im Laufe von achthundert Jahren haben Glück und Manneszucht dieses Staatengefüge errichtet, das nicht zerstört werden kann ohne Verderben der Zerstörer…‹« Nach Cartas sanftem Tadel hatte sie um Tacitus gebeten. Die Rede, die Tacitus hier wiedergab, hatte Petillius Cerialis angeblich vor dreihundert Jahren rebellierenden Stämmen in Gallien gehalten, kurz bevor er Statthalter in Britannien geworden war.
Sie befand sich in Aetius’ Haus, das aufgereiht neben anderen in dieser kleinen Gemeinde im Windschatten des Walls stand. Es war eigentlich nur eine bescheidene vierzimmerige Hütte aus Flechtwerk und Lehm im rechtwinkligen römischen Grundriss, hatte aber einen Fliesenboden und eine große Feuerstelle und war behaglich und warm. Es war gebaut worden, als die seit vielen Jahren hier stationierten Soldaten endlich heiraten und Familien gründen durften. Hierher hatte Aetius während einer früheren turnusmäßigen Dienstzeit bei den Grenztruppen seine Braut Brica gebracht, und hier war Julia, Reginas Mutter, zur Welt gekommen.
Zentrum des Hauses war das lararium, der Familienschrein, den Aetius und Regina nach ihrer Flucht aus der Villa gemeinsam gebaut hatten. Die drei grob gearbeiteten matres in ihren Kapuzenumhängen standen inmitten eines kleinen Gabenkreises aus Wein und Nahrungsmitteln. Da dies jedoch ein Soldatenschrein war, enthielt er auch Andenken an solch abstrakte Gebilde wie Roma, Victoria und Disciplina sowie eine Münze mit dem Kopf von Honorius, dem letzten Kaiser, von dem die Menschen hier gehört hatten.
In diesem Haus hatte Regina auf Aetius’ beharrliches Drängen hin ihre Ausbildung fortgesetzt. Er erwartete, dass sie Latein ebenso fließend sprechen lernte wie ihre Muttersprache – und den Unterschied kannte; Aetius
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