Der Orden
Verantwortungsbewusstsein an den Tag legen«, klagte er. »Heutzutage stecken sie ungeheuer viel Geld in ihre Villen oder Stadthäuser, aber die Abwasserkanäle von Verulamium lassen sie verkommen. Der Römer hat schon immer in einem Spannungsverhältnis zwischen staatsbürgerlichem Verantwortungsbewusstsein und der Verehrung der Familie – seiner lebenden und toten Angehörigen – gelebt. In schweren Zeiten zieht er sich in die Familie zurück, verstehst du. Aber was glaubt er, wovon die Soldaten bezahlt werden, die ihn beschützen, wenn es keine Steuern gibt, und wie sollen Steuern eingezogen werden, wenn die Städte nicht wären? Hm? Hm? Und darum bezahle ich dafür, dass die Abwasserkanäle, die Wasserleitungen und alles Übrige instand gehalten werden können. Ich weiß, wo meine Interessen liegen.«
All das kümmerte Regina nicht sonderlich.
An Carausias’ Seite schlenderte sie über das Forum und sah sich die Marktstände an. Sie suchten Gewürze, Olivenöl und vor allem Töpferwaren, fanden aber praktisch nur regionale Produkte. Ein großer Teil der Geschäfte wurde per Tauschhandel abgewickelt – Fleisch gegen Gemüse, ein alter Tonkrug gegen ein paar Schuhnägel –, obwohl einige Leute, darunter auch Carausias, von Hand ausgestelltes Ersatzpapiergeld benutzten.
Regina fand, dass die Obst- und Gemüseauslagen erbärmlich aussahen. Sie befingerte einen Bund langer, dünner, farbloser Möhren. Carausias sagte ablehnend: »Manchmal arbeiten Leute aus der Stadt auf Feldern, die seit den Zeiten ihrer Urgroßväter nicht mehr bestellt worden sind. Sie haben nicht die leiseste Ahnung. Und das kommt dann dabei heraus.« Regina legte die Möhren schuldbewusst wieder hin. Sie stammten vom Stand einer dünnen Frau mit bleicher, schmutziger Haut und vorstehenden Zähnen. Ein Kind mit aufgeblähtem Bauch klammerte sich an ihr Bein.
Nachdem sie ihre Einkäufe erledigt hatten – weitgehend ohne Erfolg –, kehrte Carausias mit Regina zur Straße nach Londinium zurück; sie ließen das Forum hinter sich und gingen weiter nach Südosten.
Schließlich gelangten sie zu einem Tempel. Er stand auf einem Platz, wo die Hauptstraße sich gabelte; dank seines Standorts war er wie ein V geformt. Ein dreieckiger Hof lag vor einem purpurrot gestrichenen Gebäude.
Es roch nach Holzrauch oder etwas Ähnlichem. Regina schnupperte. »Das riecht gut.«
»Verbrannte Kiefernzapfen.« Carausias betrachtete sie aufmerksam. »Weißt du, was das für ein Gebäude ist? Wie steht’s mit der Inschrift?« Über dem Haupteingang zum Hof war eine Widmung an die dendrophori der Stadt angebracht. »Das heißt ›Zweigträger‹.«
»Ich verstehe nicht.«
Carausias legte ihr die Hand auf die Schulter. »Cartumandua hat mir von deinem Vater erzählt, mein Kind.«
Sie merkte, wie sich ihre Miene verschloss.
»Das ist ein Tempel der Kybele. Sie ist hier sehr beliebt. Ich komme selbst hierher, um zu ihr zu beten. Wenn du mit hineinkommen möchtest…«
»Nein!«, fauchte sie.
»Du solltest deinen Frieden mit den Göttern machen – und mit dem Andenken an deinen Vater. Und auch mit dir selbst.«
»Aber nicht heute.«
»Nun ja, vielleicht ist das klug. Aber der Tempel wird immer hier sein und auf dich warten. Wollen wir nachsehen, was Marina uns zubereitet hat? Und wir müssen noch Wasser holen.«
Er nahm sie an der Hand, und zusammen gingen sie durch das schmuddelige Menschengewühl von Verulamium zurück nach Hause.
Auf Cartas nachdrücklichen Wunsch hin hatte Regina ihre Schriftrollen und Tafeln vom Wall mitgenommen. Carta meinte, sie solle weiterhin lernen, denn Aetius hätte es sicher so gewollt.
Anfangs versuchte sie es. Sie lernte im Hof des Hauses oder in ihrem Zimmer, wenn Marina nicht da war. Aber sie musste allein arbeiten. Hier gab es niemanden, der sie unterrichten konnte. Trotz seines ersichtlichen Geschäftssinns und seiner guten Menschenkenntnis war Carausias nicht gebildeter als seine Nichte, und seine Hilfe beschränkte sich darauf, ihr Anekdoten aus Theaterstücken zu erzählen, die er vor über zehn Jahren gesehen hatte und an die er sich nur noch undeutlich erinnerte. Doch er konnte es sich gewiss nicht leisten, einen Lehrer anzustellen.
Das einsame Lernen langweilte Regina in zunehmendem Maße. Und als die Wochen ins Land gingen und die Tage mit dem Herannahen des Winters kürzer wurden, erschien ihr die Arbeit immer weniger lohnend. Wen würde es jemals interessieren, ob sie Listen von Kaisern mitsamt den
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