Der Orden
Daten ihrer Thronbesteigung auswendig herbeten konnte oder nicht? In Verulamium wusste man ja noch nicht einmal genau, wer der gegenwärtige Kaiser war.
Und außerdem lenkte Amator sie ab.
Eines Tages kam er hereingeschneit, als sie gerade in ihrem Zimmer saß und zu lernen versuchte. »Lernen, lernen, lernen«, zog er sie auf. »Immer dasselbe. Du bist so langweilig.«
»Und du bist ein fauler Tölpel, der nichts Besseres zu tun hat, als Leute zu ärgern«, schoss sie zurück und wiederholte damit eine der spöttischen Bemerkungen seines Vaters.
Amator schlenderte zu Marinas Bett. Er grinste Regina an, kniete sich hin und tastete unter der Matratze herum. »Aha!«, verkündete er triumphierend und zog einen blutigen Lappen heraus. Es war einer der Lendenschurze, die Marina während ihrer Periode als Binden benutzte. Er schnupperte an dem getrockneten Blut und rieb es an seine Wange. »Ah, der Duft einer Frau…«
Regina lachte, war aber zugleich empört. Sie legte ihren Papyrus weg und lief hinter ihm her. »Das ist ekelhaft! Gib her!«
Aber er weigerte sich, und sie jagte ihn eine Weile durchs Zimmer. Sie hatten eine Methode entwickelt, einander nachzulaufen, ohne sich zu berühren, nah an den anderen heranzukommen, jedoch ohne Körperkontakt aufzunehmen, ein Spiel mit subtilen, unausgesprochenen Regeln.
Endlich gab er auf, warf sich auf Marinas Bett und stopfte den blutigen kleinen Lappen wieder dorthin, wo er ihn weggenommen hatte.
»Sie wird es merken«, sagte Regina.
»Und wenn schon. Es ist ja nur Marina.« Er stand wieder auf und ging zu Reginas lararium in der Ecke. »Das habe ich mir noch nie richtig angesehen.« Er hob eine der matres auf. »Bei Kybeles linker Brustwarze, wie hässlich.«
»Stell das hin.«
»Und wie billig.«
»Stell das hin.«
Er blickte auf, überrascht von ihrem Ton. »Schon gut, schon gut.« Er stellte die Statuette hin – nicht an die richtige Stelle; sie versprach sich, das später zu korrigieren. »Für diesen Unsinn verschwendest du also jeden Tag gutes Essen und guten Wein«, sagte er und musterte sie. »Aber hast du schon mal einen echten Gott gesehen?«
»Was meinst du damit?«
Statt einer Antwort winkte er ihr, ihm zu folgen, und schlich auf Zehenspitzen aus dem Zimmer. Natürlich ging sie ihm nach.
Amator hatte seine eigenen Aufgaben im Haus. Carausias versuchte, ihn in der Führung des Haushalts zu unterweisen, die Ursache vieler Konflikte zwischen den beiden. Aber er schien immer reichlich Freizeit zu haben, und einen großen Teil davon verbrachte er offenbar gern mit Regina. Als er herausfand, dass sie das Spiel »Soldaten« mochte, erklärte er sich zum Experten, grub in irgendeinem Winkel des Hauses die alten Figuren aus und baute sie im Hof auf, wo sie fortan zu spielen pflegten. Manchmal vergnügten sie sich auch mit dem Ball, oder sie spielten Nachlaufen in den Säulengängen oder auf den Wiesen außerhalb der Stadtmauern. Allmählich waren erste zaghafte Ansätze einer Beziehung zwischen ihnen entstanden.
Doch Amator – mit seinen achtzehn Jahren ein gutes Stück älter als sie – hatte auch eine gewisse Scharfkantigkeit. Vielleicht genoss sie die Unterströmung von Gefahr, die sie bei ihm spürte, einem Jungen, der so viel mehr wusste als sie, bestimmt so viel mehr getan hatte und sich unerklärlicherweise dennoch so für sie interessierte. Amator war rätselhaft, verwirrend, irgendwie bezaubernd – aber vor allem war er amüsant, und im Gegensatz zu den tristen Stadtbewohnern kleidete er sich immer farbenfroh und stilsicher.
Cartumandua wahrte in Bezug auf diese Dinge ein frostiges Schweigen.
Sie umrundeten den Hof, bis sie zum Kopfende der Steintreppe kamen, die zu Carausias’ Schrein hinabführte.
Regina trat zurück. »Nein. Das darf ich nicht. Carausias wäre bestimmt nicht damit einverstanden.«
»Nun ja, Carausias ist auch nicht damit einverstanden, dass er kahlköpfig, fett und alt ist, aber er muss damit leben. Komm schon – wenn du keine Angst hast.« Er setzte den Fuß auf eine Stufe, dann auf die nächste, und plötzlich lief er hinunter und verschwand aus ihrem Blickfeld.
Nach kurzem Zögern folgte sie ihm.
Der Schrein war nicht viel mehr als eine Grube im Boden. Sie hörte ein kratzendes Geräusch, dann hielt Amator eine Kerze hoch. Sein Gesicht schien im Dunkeln zu schweben.
Im unbeständigen Licht sah sie über den Mauern dieses kleinen unterirdischen Schreins eine Schicht dunklerer Erde. Als sie daran kratzte,
Weitere Kostenlose Bücher