Der Orden
kompliziert zu sein, als dass ich mich hätte entspannen können.
Ich zog mir ein frisches Hemd an, schnappte mir ein Bündel Dollars, vergewisserte mich, dass ich meine Magnetkarte fürs Zimmer eingesteckt hatte, und ging zum Fahrstuhl.
Ich durchquerte die Bar und trat durch die großen Panoramafenstertüren in den Poolbereich hinaus, eine komplexe Miniaturlandschaft aus weißem Beton. Die Hitze war drückend und dampfig, und meine englischen Kleidungsstücke fühlten sich absurd schwer an. Ich wünschte jedenfalls, ich hätte mir einen Hut mitgebracht.
Am Pool waren nur eine Hand voll Leute. Mehrere Frauen um die dreißig – gebräunt, in Bikinis, ein bisschen übergewichtig – hatten ihre Sonnenliegen zueinander gerückt und gurrten über Bilder in einer Digitalkamera. Vielleicht Hausfrauen, die den Fitness-Club des Hotels besuchten.
Ich verließ den Poolbereich durch eine nicht verschlossene Lücke in der Rückwand, ging einen kurzen Weg entlang, der von hohem Gras gesäumt war, und trat auf einen Plankenweg, einen langen Holzsteg, der auf niedrigen Stelzen über dem Sand und dem Gras stand. Ich reckte mich nach links und rechts, nach Nord und Süd. Vor mir war das Meer, hinter einem breiten Streifen aus blassgoldenem Sand. Ein warmer, starker Wind wehte mir ins Gesicht. Ich sah niemanden schwimmen, und eine rote Fahne flatterte über einem kleinen Bau auf Stelzen, vielleicht die Station eines Strandwächters. Im Westatlantik tobte der Hurrikan Jonathan; man rechnete nicht damit, dass er das Land erreichen würde, aber er erzeugte hohe Wellen und Wind.
Ich hatte ohnehin nicht vor, schwimmen zu gehen.
Das Stadtzentrum lag im Süden, deshalb wandte ich mich in diese Richtung und machte mich auf den Weg. Ich ging in flottem Tempo an einer Reihe großer Hotels vorbei, riesigen Art-déco-Pralinen aus Beton in schockierendem Pink oder Stahlblau, wie an der Atlantikküste geparkte Raumschiffe. Der Plankenweg war mühelos begehbar, aber ich schien der einzige Spaziergänger zu sein. Ein paar Leute kamen mir entgegen oder überholten mich, Jogger oder Walker, meist junge, professionell wirkende Typen in Lycra oder Jogginganzügen, winzige Kopfhörer über den Ohren, die Gesichter verschlossen, blicklos. In regelmäßigen Abständen gab es kleine, offene Telefonzellen, in denen man auf große Tasten drücken konnte, um die Polizei zu rufen.
Ich war zum ersten Mal in Miami Beach. Gina war erst vor neun Monaten hierher gezogen. Zusammen mit ihrem Mann, mit dem sie seit fünfzehn Jahren verheiratet war – einem New Yorker namens Dan Bazalget –, führte sie ein kleines Unternehmen. Bazalget und sie hatten sich in New York bei der Einführungsveranstaltung für ein Elektronikprodukt kennen gelernt; sie arbeiteten damals beide im PR-Bereich desselben Unternehmens auf verschiedenen Seiten des Atlantiks. Sie waren bereits in den Dreißigern, mit der komplizierten Vergangenheit, die man bis zu diesem Alter erwirbt; Gina hatte eine kinderlose, geschiedene Ehe hinter sich, und Dan hatte eine einundzwanzigjährige Tochter, die ich nie kennen gelernt hatte. Nachdem sie sich ineinander verliebt hatten, gründeten sie bald ein gemeinsames Unternehmen, segelten dann in die Elternschaft und brachten zwei prächtige Jungs zustande, so mühelos, wie man Erbsen enthülst, trotz Ginas Alter. Mithilfe von Ginas Erbschaft in Florida verkauften sie nun etwas, das sich »Konferenzgestaltung und -management« nannte – wahrscheinlich koordinierten sie überflüssige Konferenzen für erfahrene Geschäftsleute.
Mein Vater, der Buchhalter, hatte sich immer über Ginas Berufsbezeichnung lustig gemacht. »Ich meine, kann man einen Abschluss in ›Konferenzgestaltung‹ machen?«, hatte er zu fragen gepflegt. Ja, das konnte man tatsächlich. Ich gönnte Gina ihre überaus moderne Berufswahl und ihren geschäftlichen Erfolg – jedenfalls weitgehend, in Anbetracht des von üblicher Geschwisterrivalität herrührenden Neids auf eine Schwester, die in ihrem Leben immer alles besser gemacht zu haben schien als ich.
Als ich die meisten großen Hotels hinter mir gelassen hatte, bog ich durch eine schmale Gasse landeinwärts ab. Ich überquerte den Ocean Drive, wo sogar die Polizeibeamten hautenge Shorts trugen, und gelangte zu einer Hauptstraße namens Collins Avenue. In einem Drugstore erstand ich für ein paar Dollar einen kleinen Touristenstadtplan und unternahm einen schnellen Rundgang zu den Highlights von Miami Beach. Es gab ein
Weitere Kostenlose Bücher