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Der Orden

Der Orden

Titel: Der Orden Kostenlos Bücher Online Lesen
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Art-déco-Gebiet, einen kleinen Stadtteil voller reich verzierter Gebäude – Hotels, Privathäuser, Banken, Bars, einige davon hinter schweren Sicherheitstoren. Das allerschönste Gebäude schien das Hauptpostamt der Stadt zu sein, ein sinnlos grandioses Bauwerk, über dessen prachtvollen Fußboden sich trostlose Schlangen wanden.
    Ich bekam die Stadt einfach nicht richtig in den Blick. Sie hatte irgendwie etwas leicht Anrüchiges, die Aura einer Vergangenheit aus schmutzigem Geld und drohender Gefahr – und dennoch hatte jemand den entschlossenen Versuch unternommen, damit aufzuräumen, wie es die Alarmtasten am Plankenweg bewiesen. Und ich kannte meine Schwester gut genug, um zu wissen, dass sie ihre Kinder nirgendwohin bringen würde, wo sie nicht für ihre Sicherheit sorgen konnte. Trotzdem war ich erleichtert, als ich zum Plankenweg und der gewaltigen, physischen Präsenz des Meeres zurückkehrte.
    Ich schaue nie amerikanisches Fernsehen. Die permanenten Werbepausen machen mich total hippelig, als hätte ich zu viel Zucker gegessen. Ich bestellte mir einen Spielfilm, eine Komödie, und ließ mir einen so genannten Snack aufs Zimmer bringen, der umfangreicher war als die meisten Sonntagsmahlzeiten daheim, dazu eine halbe Flasche kalifornischen Chardonnay. Noch vor dem Ende des Films schlief ich ein.
     
    »George. Schön, dich zu sehen, und so weiter.« Sie fasste mich an den Schultern und gab mir tatsächlich einen Luftkuss; ihre linke Wange streifte meine, ihre Lippen verfehlten meine um etliche Zentimeter. Ich hielt ihr automatisch die rechte Wange für einen zweiten Kuss hin, aber ich hatte vergessen, dass man das nur in Europa so macht – in Amerika bekommt man bloß den einen.
    Nun, das war so ziemlich das Maß an Zuneigung, das Gina mir üblicherweise angedeihen ließ.
    »Ich habe mir frei genommen, um dich zu sehen, aber Dan konnte nicht weg«, sagte sie. »Die Jungs sind auf dem Heimweg von der Schule. Ich habe dafür gesorgt, dass sie einen halben Tag frei bekommen.«
    »Das weiß ich zu schätzen…«
    Ihr Haus war modern, mit hölzernen, um die Haustür herum vielleicht ein bisschen sonnengebleichten Wänden. Die Zimmer waren lichterfüllt, gesäumt von Bücherregalen und Fernsehgeräten – anscheinend gab es in jedem Zimmer eins, und in den meisten einen Computer. In der Luft lag ein frischer, aber etwas irritierender Geruch, vielleicht von einem Luftverbesserer mit Kiefernaroma. Ein großes, weitläufiges Heim auf einer ausgedehnten, kurz gestutzten Rasenfläche, über der selbst um diese Zeit – elf Uhr vormittags – Sprinkler zischten. Es gibt immer so viel Platz in Amerika, so viel Raum.
    Doch das Erste, was ich sah, als ich ihre Diele betrat, war Dads Standuhr.
    Sie war ein großes, von Würmern zerfressenes Relikt, das man jederzeit überall wiedererkennen würde. Ihr schweres, angelaufenes Pendel und das altersfleckige Zifferblatt hatten sie zu einer Art Brennpunkt unserer Kindheit gemacht. Bei meinen Räumungsbesuchen in dem Haus in Manchester war mir gar nicht aufgefallen, dass sie fehlte. Aber hier war sie nun – sie sah aus, als wäre sie vielleicht sogar restauriert worden –, und mir wurde klar, dass Gina sie schon vor Dads Tod mitgenommen haben musste, wahrscheinlich mit seiner Zustimmung.
    Sie sah, wie ich die verdammte Uhr anstarrte. Wir wussten beide, was das bedeutete. Es war nicht so, dass ich die Uhr haben wollte oder sie daran gehindert hätte, sie mitzunehmen, aber ich hätte es gut gefunden, wenn wir wenigstens über dieses Stück unseres gemeinsamen Erbes gesprochen hätten. Es war kein guter Start für den Besuch.
    Sie führte mich in ein Frühstückszimmer, ließ mich an einem polierten Kieferntisch Platz nehmen und stellte einen Kaffeeautomaten an. Wir saßen da und führten ein belangloses Gespräch über die Nachwirkungen des Todes meines Vaters: den Verkauf des Hauses, seine geschäftlichen Angelegenheiten. Sie stellte mir keine Fragen nach meinem Leben, aber das tat sie sowieso nie.
    Gina war drei Jahre älter als ich. Sie sah so alt aus, wie sie war, aber nicht schlecht. Sie wirkte körperlich entspannt, wie jemand, der genug Fitnesstraining machte. Sie hatte nichts gegen die grauen Strähnen in ihrem dicken blonden Haar unternommen, und es war ein bisschen streng von den Schläfen und der Stirn nach hinten gekämmt. Ich hatte ihr Gesicht immer für eine viel schönere Version meines eigenen gehalten – ihre Züge waren zarter, ihr Kinn kleiner, ihre Nase

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