Der Osmanische Staat 1300-1922
einer panislamischen Politik. Daß
es Abdülhamid II. aber vor allem um eine Stärkung der sunnitischen Elemente zu
tun war, konnte S. DERINGIL überzeugend darlegen [492].
Jungtürkische
Ideologie
Obwohl die jungtürkische Opposition schon aufgrund ihrer intensiven Propagandatätigkeit im europäischen und ägyptischen Exil als bekanntes Phänomen
gilt, zeigt eine äußerst gründliche Untersuchung ihrer kaum herangezogenen
privaten Hinterlassenschaften, daß die bisherigen Vorstellungen unangemessen
vereinfachten [494: HANIOCLU]. Es wird deutlich, daß zwischen den offiziellen
Erklärungen und den privaten Aussagen der wichtigsten Exponenten der osmanischen Opposition erhebliche Unterschiede bestehen. Sie bildeten alles andere als einen monolithischen Block und waren nur im Wunsch vereinigt, Sultan
Abdülhamid II. zu stürzen oder wenigstens zu entmachten. HANIOCLu bemüht
sich (vielleicht überakzentuiert), bestimmte agnostische und elitäre Positionen der
Exilpolitiker mit Denkrichtungen des Positivismus und von Gustave Le Bon zu
verbinden. Man wird zur Ideengeschichte weiterhin auch die Arbeiten von $.
MARDIN [495; 496], D. KUSHNER [497] und F. AHMAD [498] heranziehen. MARDIN
hat an anderer Stelle pointiert, von Tocquevilles Revolutionstheorie ausgehend,
geschrieben, daß es weder eine türkische Vendee gab, noch konspirative osma nische emigres. Zu den Balkankriegen und zur Vorgeschichte des Weltkriegs fehlen osmanistische Beiträge, auch wenn die Autoren [z. B. 386: WALLACH; 501: BOECKH] gelegentlich türkische Stimmen aufnehmen.
Die Balkankriege;
der Ausbruch des
Weltkriegs
h) Armenier: Die„ loyale Nation" und ihre Vertreibung
Die Tragik der Armenier im späten 19. und frühen 20. Jahrhundert wird um so
deutlicher, als ihre Vertretung in den lokalen und provinzialen Verwaltungsräten, den Ministerien und der Justiz seit den Tanzimät ganz außerordentlich stark war [754: KRIKORIAN]. Die wichtigste Literatur über die
Zeit nach ca. 1860 verteilt sich auf drei thematische Schwerpunkte: a) die
zentralen armenischen Institutionen und das armenische Geistesleben in der
Hauptstadt Istanbul; b) lokale Vorgänge aus dem Raum der „Sechs Provinzen"
(nach der Festlegung des Berliner Kongresses), in denen die armenische Millet
einen Bevölkerungsschwerpunkt hatte (Sivas, Erzurum, Mamuretülaziz/Elazig,
Diyarbekir/Diyarbakir, Bitlis und Van); und c) die Aufstände (vor allem der
1890er Jahre, die Adana-Pogrome von 1909) und Vertreibungen (1915/16).
Hier kann nur der letzte Komplex berücksichtigt werden. Dokumente aus
europäischen, amerikanischen und türkischen öffentlichen Archiven und den
Missionsanstalten stehen inzwischen in großer Zahl zur Verfügung [z. B. 757:
BEYLERIAN]. Leider sind viele Ausgaben selektiv [756: SIM~IR] bzw. unsystematisch [759: SARAFIAN] und erlauben ausnahmslos keine Vergleiche untereinander. Die russischen Archive werden bisher so gut wie nicht berücksichtigt. Das vom türkischen Staatsarchiv seit den 1980er Jahren erschlossene Material wird noch kaum herangezogen. Alle Quellensammlungen
sind voreingenommen, leiden an Überfrachtungen und Wiederholungen. Ein
Teil des Materials stammt aus zweiter oder dritter Hand.
Im Mittelpunkt der alten und neuen Kontroverse über die armenische Vertreibung stehen zwei Fragen: 1) Wie groß war die Zahl der Opfer auf beiden
Seiten? 2) Hat das osmanische Regime den Untergang großer Teile des armenischen Volkes nicht nur in Kauf genommen, sondern willentlich herbeigeführt? J.
MCCARTHY [531; 537] hat sich aufgrund verläßlicher Statistiken auf „etwas
weniger" als 600 000 Opfer der Kriegsjahre 1912-1922 festgelegt. Auf muslimischer Seite forderte dieses Jahrzehnt 2,5 Millionen Tote, überwiegend Türken, wobei der Zoll in den „Sechs Provinzen" unter den Muslimen ca. 1 Million
ausgemacht haben soll. MCCARTHY hebt hervor, daß es auch in Räumen, die nicht
von der russischen Armee okkupiert waren, wie der Provinz Sivas, zu hohen
Opfern unter den Muslimen kam (180000) und vermutet, daß der „intercommunal warfare" einen hohen Anteil an diese Zahlen hat.
Nicht nur die Zahlen der Armenier, die den großen Deportationen im Weltkrieg
zum Opfer fielen, bedürfen einer Überprüfung, auch die Angaben zu den isolierten Vorgängen des 19. Jahrhunderts (Aufstand von Sasoon/Zevtun im Jahr 1894/5) sind höchst widersprüchlich. J. SALT [760] unterstreicht, daß alles Beweismaterial („evidente") für die Anordnung
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