Der Osmanische Staat 1300-1922
Erhebungssystem für außerordentliche Steuern ersetzt
wurde [480: URSINUS]. Die unerfüllten Erwartungen der Provinzbevölkerung an
eine gerechtere Steuerpolitik führten zu Unruhen in Nis und Vidin (1841/1850).
INALCIK hat sie zum Gegenstand einer Fallstudie gemacht [481]. Zur Lokal- bzw.
Provinzialverwaltung vor und nach dem Erlaß des vilayet-Gesetzes von 1864 gibt
es eine wachsende Zahl von eher normativ orientierten Büchern [482: ORTAYLI;
483: KORNRUMPF]. Die meisten betreffen die südosteuropäischen und anatolischen Landesteile. Die für die Tanzimät-Zeit kennzeichnende Paradoxie von
gleichzeitiger Zentralisierung (Schwächung des Gouverneurs) und Dezentralisierung (Stärkung der Provinzialräte) wurde für Syrien klar beschrieben [484:
MA'oz]. Für den Irak in den ersten Jahrzehnten des 19. Jahrhunderts kann
vorläufig nur auf einen sozialwissenschaftlich orientierten Forschungsbeitrag
hingewiesen werden. Sein Autor hat keine osmanischen Quellen eingesehen,
aber mit Gewinn europäische Reiseliteratur und französische Konsulararchive
ausgewertet [739: NIEUWENHUts]. Eine der Dependenztheorie verpflichtete Untersuchung des kommunalen Pilot-Projekts von Istanbul-Beyoglu erlaubt zwar
keine Schlüsse auf die Städte im Hinterland, kann aber im Zusammenhang mit
Monographien zu anderen osmanischen „Hafenstädten als Einfallstore der Verwestlichung" gelesen werden [485: RoSENTHAL].
Midhat Pascha
Die Bedeutung des Reform-Paschas Midhat (1822-1884) für die Verwaltungsgeschichte der Tanzimät-Zeit wird heute in der türkischen Forschung
stärker herausgestellt als seine Rolle als „Vater der Konstitution" von 1876. Die
Beiträge eines internationalen Symposiums [487] behandeln auch zum größten Teil
Fragen des Agrarkredits und der Provinzialverwaltung. Die Diskussion um den
Hintergrund der Verfassung von 1876 hält dennoch an. Wurde die Konstitution
ausgerufen, um Rußland als einzigen „europäischen Staat ohne Verfassung" zu
isolieren? War die Aktion übereilt, und hatte der Herrscher recht, wenn er das
Parlament wieder auflöste? Oder ist die Entstehung des Staatsrats (Süra-i Devlet,
1868) als ernstzunehmende Vorbereitung zusammen mit einer bestimmten öffentlichen Meinung zu werten? Z. T. TUNAYA und andere sahen im Verfassungsgesetz von 1876 die „in Rechtsform gebrachten Tanzimät-Fermane". Historiker wie S. AK~IN leugnen hingegen „hausgemachte" Bestandteile. Auch wird
der Anteil Englands bei der (zweiten) Einsetzung Midhats als Großwesir unterschiedlich gesehen. Die Tatsache, daß England seine Nominierung begrüßte,
habe nicht gleichzeitig zu bedeuten, daß es diesen Vorgang betrieb [B. SIM~IR, vgl.
471: MossE].
g) Hamidischer Despotismus und jungtürkische Opposition; Osmanismus;
Panislamismus
Panislamismus
Ausdruck der Schwierigkeiten einer Bewertung der langen Regierungsjahre von
Abdülhamid II. (1876-1908) ist das Fehlen einer politischen Biographie. Ein
umfangreiches, zwei Jahre nach seinem Sturz verfaßtes Werk von OSMÄN NÜRI
stellte den Herrscher grausamer als Timur dar und entnahm das Kapitel über das
Zensurregime dem Werk des französischen Journalisten P. FESCH. Ab den
dreißiger Jahren nahmen pro-hamidische Stimmen in Wissenschaft und Publizistik zu [488: HAERKÖTTER]. Schon genannt wurde St. SHAWS umfangreiches
Kapitel über den Sultan [236]. O. Kot.ocLU bemühte sich als erster türkischer
Autor um eine mittlere Position [489]. Als Beispiel für eine moderat revisionistische Position bei der Beurteilung von Abdülhamids Großwesir Kü~ük
Sa'id Pascha kann ein Aufsatz von E. KURAN dienen [4911. Ansonsten gibt es kaum
Politikerbiographien mit wissenschaftlichem Anspruch. R. UCAROLS Buch [493]
über den Militär und Politiker Ahmet Muhtär (1839-1919) bildet eine Ausnahme.
Hier wird die Lebensgeschichte des Paschas im Zusammenhang mit der Politik
seiner Zeit zwischen der Statthalterschaft im Jemen und dem Großwesirat (1912)
erzählt. Obwohl Aufgaben wie das Hochkommissariat für Ägypten von geringem
Einfluß waren, erlauben sie Einblicke in das hamidische System. Ul~AROL erkennt
den Versuch des Sultans, den im „93-Krieg" (1293 H. = 1877/8) populär gewordenen Gazi-Pascha gleichzeitig zu isolieren und an das Serail zu binden. Die
Rapports des Paschas aus Ägypten stellen einen interessanten Beitrag zu den
osmanisch-englischen Beziehungen dar. Der postulierte Turkismus des Sultans
steht für viele Autoren nicht im Widerspruch zu
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