Der Osmanische Staat 1300-1922
von Massakern durch Abdülhamid
II. bis heute fehlt. Um 1894 hatte die Verbindung revolutionärer Provokationen,
osmanischer Erwiderungen und europäischer, überwiegend britischer Interventionen in katastrophale Folgen. Ob die Verantwortlichen in Istanbul mit den
Deportationen der Armenier in den Jahren 1915 und 1916 große Menschenverluste nur billigend in Kauf nahmen oder beabsichtigten, bleibt umstritten.
Allerdings können strategische Gründe nicht als ausreichende Argumente dienen, weil auch frontferne armenische Gruppen aus Ost- und Zentralanatolien bzw.
Kilikien verschickt wurden. Ein größerer Forschungsbericht über die Armenier
im Osmanenstaat fehlt. G. DYER schrieb vor einem Vierteljahrhundert in einem
Artikel über die Historiographie der Armeniermassaker, daß mit wenigen Ausnahmen türkische und armenische Historiker nach wie vor die Haltung ihrer
Vorgänger aus dem Jahr 1916 einnehmen. Die Replik G. L. LIBARDIANS in
Armenian Review machte DYER unter anderem das Übersehen repräsentativer
Werke der armenischen Geschichtswissenschaft zum Vorwurf [758]. Inzwischen
gibt es umfassendere Bibliographien zur armenischen Frage von beiden Seiten
[761: ATAÖV; 762: HOVANNISSIAN].
i) Weltkrieg, Sevres, Malta, arabischer Aufstand
Der von M. KENT herausgebene Sammelband mit Beiträgen zu allen großen
kriegführenden Staaten bleibt die wichtigste Grundlage zur Großmachtspolitik
am Beginn des 20. Jahrhunderts [504]. Die Mehrheit der internationalen Forschung hält daran fest, daß die osmanische Option für Deutschland das kleinere
Übel war. Großbritannien sei nach den Balkankriegen zu keiner Hilfe für die am
Boden liegende Türkei bereit gewesen. Die Frage, ob es sich bei den osmanischen
„Kriegszielen" in Europa, dem Kaukasus und Zentralasien um mehr als Propaganda handelt, wird noch länger kontrovers behandelt werden [zuletzt 550:
KARSH u. KARSH]. Titel zum Kriegsverlauf können hier nicht berücksichtigt
werden (es kämen vor allem die Bände des türkischen militärgeschichtlichen
Forschungsamts ATASE aus den 1960er und 1970er Jahren in Frage). Der unübersehbaren Gallipoli-Literatur in englischer [zuletzt 505: STEEL u. HART] und
türkischer Sprache steht nichts vergleichbares zu den anderen Fronten gegenüber
[eine Auflistung von überwiegend türkischsprachiger Literatur mit englischer
Übersetzung ist 502: YÜCEL]. Besser untersuchte Themen sind der arabische
Aufstand, geheimdienstliche Aktivitäten [503: HoPKIRK], die Ausrufung des
„Heiligen Kriegs" und die deutsche Islampropaganda. Das letzte Kapitel des
osmanische Staats - Istanbul unter alliierter Besatzung - hat B. CRISS aufgeschlagen [506]. Obwohl der Vorortsfriede von Sevres (1920) nicht ratifiziert
wurde, muß das Vertragswerk zur Kenntnis genommen werden, um die Politik
der Alliierten im Weltkrieg einzuschätzen [508: HELMREICH] und gleichzeitig den als Unabhängkeitskrieg in die Geschichte eingegangenen anatolischen Widerstand
[MANGO: 509] zu verstehen.
2. RAUM UND BEVÖLKERUNG
Ethnien
Der große Anteil von Studien über Städte, insbesondere Istanbul, soll nicht
vergessen machen, daß die Hauptstadtbewohner nur wenige Prozent (im
18. Jahrhundert ca. 4%) der Gesamtbevölkerung repräsentierten. Der bäuerliche
ist vom nomadischen Bevölkerungsanteil wegen ineinander übergehender Wirtschaftsformen schwer abzugrenzen. Ende des 16. Jahrhunderts verhielt sich die
nomadische Bevölkerung zur ansässigen in einigen östlichen Provinzen wie
Aleppo oder Bagdad wie 100:58 bzw. 100:62. Obwohl sich das Buch von P. A.
ANDREWS [510] samt den Kartenblättern auf eine verhältnismäßig kleine räumliche (Türkei) und zeitliche (ab ca. 1927) Einheit bezieht, eignet es sich wegen
seiner stringenten Begrifflichkeit und seinen historisch-geographischen und bibliographischen Angaben auch für ein tieferes Verständnis der noch nicht entworfenen ethnischen Karte der osmanischen Länder. Im Vielvölkerstaat war die
Loyalität von Angehörigen einzelner Volksgruppen selten ungeteilt. Umgekehrt
leisteten etwa Albaner und Bosnier im 17. und 18. Jahrhundert - trotz mancher
gegenläufiger Tendenzen - einen erheblichen Beitrag zur Integration des Gesamtstaats [511: MAJER]. Mißgunst konnte bei der Bevorzugung einzelner Gruppen nicht ausbleiben. Umgekehrt war die türkische Mehrheitsbevölkerung
mannigfaltiger Stereotypenbildung, vor allem im arabischen Raum [512: HAARMANN], ausgesetzt. Die ethnischen
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