Der Osmanische Staat 1300-1922
BALTA].
Historische
Demographie
Bevölkerung im
19./20. Jahrhundert
Nach der Aufgabe des zentralen tahrir-Systems im frühen 17. Jahrhundert sind
für etwa 200 Jahre auch grobe Schätzungen der Gesamtbevölkerung ausgeschlossen. 1831 wurde eine Erfassung der wehrfähigen Männer angestrebt, bei
der eine viel zu geringe Zahl von 3722 738 Personen ermittelt wurde. Der Zensus
von 1881/82-1893 als erste umfassende Volkszählung bildet nach KARPATS Darlegungen eine ausreichend verläßliche Basis für die osmanische Demographie im
späten 19. Jahrhundert [530]. KARPAT hat sich die „Interpretation und Analyse"
der osmanischen Daten für einen Nachfolgeband vorbehalten. Vorläufig geben
viele Statistiken (wie zum Analphabetismus in den einzelnen Provinzen nach einer
Handschrift von 1894/5) mehr Rätsel auf, als sie Antworten zu geben vermögen.
BAHARS und DUBENS Analyse Istanbuler Bevölkerungsdaten zwischen 1885 und
1907 hat zu genauen und überraschenden Aussagen über Heiratsalter und Fertilität geführt. Auch läßt sich der Prozentsatz polygamer Ehen (2,5% der Männer
um 1885) jetzt exakt bestimmen [178]. Die demographischen Auswirkungen der
Katastrophenjahrzehnte für die anatolische Bevölkerung zwischen dem russischtürkischen Krieg (1877/78) und der ersten republikanischen Volkszählung (1927)
lassen sich bei entsprechender Kritik der Statistiken rekonstruieren. MCCARTHY
kommt zu dem Ergebnis, daß die Verluste der muslimischen Bevölkerung in
absoluten Zahlen, die der Armenier aber in relativen Anteilen (40%) höher
waren [531]. Amtliche osmanische Statistiken wurden von MCCARTHY für den
Gesamtraum zusammengestellt, in dieser Veröffentlichung aber keiner analytischen Behandlung unterzogen [532]. Ein weiteres Buch hat der amerikanische Demograph der Bevölkerung Palästinas im 19./20. Jahrhundert gewidmet [533]. Hier werden die umstrittenen Angaben zur nichtjüdischen und
jüdischen Bevölkerung zwischen 1800 und 1850 diskutiert. MCCARTHY hält es für
statistisch unhaltbar, von einer massiven arabischen Einwanderung in der Mandatszeit zu sprechen. Die arabische Bevölkerungsmehrheit (bis 1948) sei das
Ergebnis natürlichen Wachstums.
Migrationen
Die Vertreibung und Flucht der muslimischen Bevölkerung aus den Kaukasusländern, der Krim und Südosteuropa [534: PINSON] hat die ethnische Landkarte
Thrakiens und Anatoliens nachhaltig geprägt [510: ANDREwS]. Die Umstände der
Vertreibung von 1877/78 und 1912/13 waren nicht gleich. Die Massaker an den
Muslimen waren in der ersten Phase organisierter, in der zweiten willkürlicher,
„but not less lethal". MCCARTHYS erste Darstellung der „ethnischen Säuberungen" zwischen dem griechischen Aufstand und dem Ende des anatolischen
Befreiungskriegs verbindet die Erfahrung von der Vertreibung der Muslime aus
Südosteuropa und den Kaukasusländern mit dem Schicksal der Armenier während
des Weltkriegs. Er behauptet, daß die Deportationen der Armenier durch das
Schicksal der Muslime in Bulgarien ausgelöst wurde und fragt: „Welches Schicksal
hätte die Muslime ereilt, wenn die Russen vormarschiert wären?" [537].
Ein- und
Auswanderung
Die historische und kulturgeographische Forschung beschäftigte sich zunehmend mit der Politik der Wiederansiedlung in Anatolien [535: IPEK]. Die Integration der Neuankömmlinge war langwierig und mit der Aufgabe der Muttersprache und der Auflösung tribaler Organisationsformen (Tscherkessen)
verbunden. Grundbesitzer aus Bosnien, Bulgarien bzw. Ost-Rumelien oder von
der Krim hatten ihre Immobilien häufig in Geldvermögen verwandelt. Historiker
und Geographen stimmen in der Bewertung der Migration als ökonomisches
Stimulans für Anatolien überein. Eine nach Rußland, den Vereinigten Staaten
und Südamerika gerichtete Auswanderung beschränkte sich weitgehend auf
Nichtmuslime (Griechen, syrische Araber, Armenier). Ihr Umfang wird auf
500-800 000 Menschen geschätzt. Während des Weltkriegs wurden zahlreiche
Griechen von Westanatolien ins Landesinnere deportiert. Die politischen Auswirkungen der polnischen [536: LEWAK] und ungarischen Emigration in die Türkei
des 19. Jahrhunderts waren bedeutender als ihre Zahl.
Epidemien
Über die Zusammenhänge der Ausbreitung der Pest von 1347 mit der osmanischen Expansion läßt sich nur spekulieren. Ihre demographischen Auswirkungen waren sicher beträchtlich. Hingegen sind die Folgen der Pest für die
Bevölkerung zwischen 1700 und 1850 besser
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