Der Pakt der Wächter: Roman
Holzsockel und hebelt ihn hin und her.
Sigmund Skarnes macht zwei, drei Schritte auf den Mann zu, der im Begriff ist, Holzspäne aus einem achthundert Jahre alten Kleinod zu machen.
Da schlägt Hassan zu. Blitzschnell und unerwartet. Die Faust trifft den Pfarrer an der Schläfe. Der Schlag ist so hart, dass er sich einmal um die eigene Achse dreht und mit dem Kopf gegen die Wange einer Bankreihe schlägt. Sein Schädel kracht auf die Holzkante. Etwas knirscht. Er kippt nach hinten und bleibt reglos auf dem Boden liegen.
Die anderen hebeln und reißen St. Laurentius unberührt von seinem Sockel los. Das Holz splittert. In meinem Kopf hallen die stummen Schreie der Figur wider. Der Kleinste von ihnen reicht Hassan die Holzskulptur. Er hält sie vor sich in die Luft wie eine Siegestrophäe.
Jetzt bin ich an der Reihe, denke ich. Jetzt brechen sie mir die Finger, einen nach dem anderen.
Aber sie wählen eine noch grausamere Variante.
Einer der Männer geht mit der Kanne Terpentinersatz zu dem neunhundert Jahre alten Taufbecken aus Speckstein und gießt die Flüssigkeit in die Schale. Ein anderer zieht die weinende Küsterin hinter sich her.
»Sie zwingen uns, sie zu taufen«, sagt Hassan.
Sie taufen?
Der Gorilla fährt mit den Fingern durch das Haar der sich wehrenden Küsterin und drückt ihr Gesicht in die Schale mit dem Terpentin. Heulend und prustend stemmt sie sich dagegen.
»Wo sind die Thingvellirrollen?«, fragt Hassan erneut.
Panisch begreife ich, dass ich sie derselben Folter aussetze, die Sira Magnus in Snorris Badebecken durchlitten hat. Nur noch schlimmer. In dem Badebecken war Quellwasser. Wenn die Küsterin Terpentin in die Lunge bekommt, kann sie eine lebensbedrohliche chemische Lungenentzündung bekommen. Wenn sie sie nicht vorher ertränken.
»Halt!«, rufe ich. »Ich werde sagen, wo …«
Mit tropfnassen Haaren greift die Küsterin panisch nach dem Taufbecken und schleudert es weg. Ein Schauer Terpentinersatz ergießt sich über die brennenden Kerzen und den Mann, der die Zigarette raucht. Er flammt auf wie eine Fackel.
Mein Herzschlag setzt aus.
Mit einem markerschütternden Schrei stürzt der brennende Mann durch den Mittelgang, wo er zusammenbricht und sich vor Schmerzen krümmt. Hassan und die drei anderen werfen ihre Anzugjacken über ihn in dem verzweifelten Versuch, die Flammen zu löschen. Der Mann brüllt vor Todesangst und Schmerzen.
Ich rufe um Hilfe, so laut ich kann. Um uns herum lodern Flammen über den Boden und die Läufer, lecken an den Säulen empor und fressen sich in das trockene Holz.
Meine Hände sind noch immer gefesselt.
In diesem Moment geht der automatische Brandalarm los, und die Sprinkleranlage schaltet sich ein.
Hassan richtet sich auf. Er sieht mich an, als wäre ich an dem ganzen Elend schuld. St. Laurentius klemmt unter seinem Arm.
Ich zerre verzweifelt an den Plastikriemen, die mich an den Sockel fesseln. Hassan ist tropfnass von dem Löschwasser.
Es sieht aus, als wolle er seine Pistole ziehen und seine Rache hier und jetzt vollziehen. Aber vielleicht hat er auch nur vor, mich den Flammen und einem schmerzvollen Tod im Feuer zu überlassen.
Der Alarm ist ohrenbetäubend. Einer der Männer ruft Hassan etwas zu. Er antwortet. Sie laufen mit ihrem verletzten Kollegen zwischen sich zum Ausgang.
»Hilfe!«, schreie ich aus voller Lunge.
Um mich herum kämpfen Flammen und Löschwasser um die Oberhand. Die Flammen haben jetzt die Bankreihe erreicht, die am meisten von dem Terpentinersatz abbekommen hat. Das Feuer zischt in dem Regen aus der Sprinkleranlage. Ich atme Rauch ein und muss husten.
Völlig außer Atem schneidet die Küsterin die Strippen um meine Handgelenke auf. Sie hustet unablässig »Was geht hier vor, was geht hier vor?«, fragt sie schluchzend.
Wir packen den bewusstlosen Pfarrer unter den Armen und schleppen ihn durch den Mittelgang aus der Kirche und die Steintreppe hinunter. Im sicheren Abstand von der brennenden Kirche legen wir ihn ins trockene Gras zwischen den Grabsteinen. Aus der Eingangstür quillt Rauch.
Ein schwarzer, allradangetriebener Mercedes GL fährt mit quietschenden Reifen davon. Hinter der Heckscheibe glaube ich zwischen dem Verletzten und Hassan St. Laurentius zu erkennen.
Der Pfarrer atmet nicht mehr.
Seine Augen sind halb geöffnet und starren in die Ewigkeit, deren Verständnis er sein Leben geweiht hatte. Dünne Streifen Blut rinnen aus seinen Nasenlöchern und den Ohren.
Die Küsterin und ich
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