Der Palast
habe Beamte aus Odawara zu Hilfe geholt, der letzten Kontrollstation, durch die der Pilgerzug gekommen war. Die Beamten haben anhand ihrer Personenlisten versucht, die Namen der Toten zu ermitteln.«
Jeder Reisende, der eine Kontrollstation an der Tōkaidō passierte, wurde von den dortigen Beamten überprüft und nach verborgenen Waffen oder Schmuggelware durchsucht. Bei weiblichen Reisenden wurde diese Aufgabe von Inspektorinnen übernommen. Da die Gesetze der Tokugawa die Reisefreiheit von Frauen einschränkten, um rivalisierende Samurai-Klans daran zu hindern, ihre Familien in ländliche Gegenden zu schicken, um dort einen Aufstand gegen das herrschende Regime vorzubereiten, durften Frauen nur mit besonderen Pässen reisen. An den Kontrollstationen kopierten die Beamten die Eintragungen im jeweiligen Pass, auf dem der Rang der betreffenden Person, die äußere Erscheinung sowie besondere Merkmale – beispielsweise Narben oder Muttermale – aufgeführt waren.
»Die Inspektorinnen konnten sich gut an die vier Damen erinnern«, sagte Leutnant Ibe. »Sie waren mit Sicherheit nicht unter den Toten.«
Diese Auskunft war eine ungeheure Erleichterung für Sano und Hirata, auch wenn das Schicksal ihrer Frauen vorerst ungeklärt blieb. Sie warfen sich einen befreiten Blick zu.
»Außerdem wurde eine Überlebende gefunden«, erklärte Polizeikommandeur Hoshina, ein gut aussehender, breitschultriger, kräftiger Mann mit kantigem Gesicht. Von dem Ehrgeiz getrieben, Karriere im bakufu zu machen, der herrschenden Militärregierung, nutzte Hoshina jede sich bietende Gelegenheit, die Aufmerksamkeit seiner Vorgesetzten auf sich zu lenken. Die Informationen, die Hoshina nun vorbrachte, hatte er wahrscheinlich von Leutnant Ibe bekommen, bevor Sano und Hirata im Palast des Shōgun eingetroffen waren. »Die Beamten haben herausgefunden, dass es sich bei der Überlebenden um die Leibdienerin der ehrenwerten Keisho-in handelt, eine Frau namens Suiren. Sie war schwer verwundet und bewusstlos. Sie wird von einem Trupp Soldaten hierher gebracht. Wenn alles nach Plan verläuft, wird sie morgen hier sein.«
Die Frau konnte vielleicht aussagen, wer die Angreifer gewesen waren – aber was war in der Zwischenzeit mit Reiko und Midori, Keisho-in und Fürstin Yanagisawa geschehen? Sano verdrängte seine Sorgen und zwang sich, so nüchtern und sachlich wie der Ermittler zu denken, der er war.
»Wurde der Schauplatz des Überfalls nach Hinweisen auf den möglichen Verbleib der entführten Frauen untersucht?«, fragte er.
»Als ich losgeritten bin, war die örtliche Polizei zum Schauplatz des Verbrechens unterwegs«, antwortete Leutnant Ibe. »Inzwischen haben sie vielleicht etwas herausgefunden.«
»Die Wachsoldaten und die beiden Ermittler, die der sōsakan-sama zur Begleitung der Frauen abkommandiert hatte, müssen sich doch zur Wehr gesetzt haben!«, sagte Hirata, der sichtlich Mühe hatte, seine Besorgnis im Zaum zu halten. »Bestimmt wurden mehrere Angreifer getötet. Hat man ihre Leichen entdeckt und herausgefunden, um wen es sich handelt?«
»Es gab zwar Anzeichen für ein Gefecht, aber wir haben nur die Leichen des Gefolges aus Edo gefunden«, sagte Leutnant Ibe bedauernd. »Falls auch Angreifer ums Leben kamen, wurden die Toten beseitigt.«
»Diese Verbrecher haben dutzende von Bediensteten niedergemetzelt und eine Schwadron Tokugawa-Soldaten besiegt. Sie haben ihre eigenen Toten fortgeschafft und die vier Frauen entführt. Und niemand hat etwas gesehen?«, stieß Sano ungläubig hervor. »Zu dieser Jahreszeit drängen sich die Reisenden auf der Tōkaidō! Kaufleute und Bauern sind zu den Märkten unterwegs, Pilger reisen zu den Tempeln, und Erholungssuchende begeben sich zu den heißen Quellen oder zu Villen im Hügelland. Wo waren all diese Leute, als der Pilgerzug überfallen wurde?«
»Der Abschnitt der Tōkaidō, an dem die Verbrecher zugeschlagen haben, verläuft durch gebirgiges Gelände«, meldete Hoshina sich zu Wort. »Es gibt Stellen, an denen die Straße an einer Seite von einer Felswand begrenzt wird, während sich auf der anderen Seite ein Steilabfall befindet, sodass eine Flucht nur nach vorn oder zurück möglich ist. Die Verbrecher haben an zwei solcher Stellen Straßensperren aus Baumstämmen errichtet. Zwischen diesen beiden Sperren wurde dem Pilgerzug dann der Hinterhalt gelegt.«
Hoshina schien das Verbrechen, von dem er selbst ja nicht betroffen war, beinahe zu genießen, wofür Sano ihn umso mehr
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