Der Palast
zusammensetzte – mächtige alte Männer, deren Wort großes Gewicht besaß. Hinter ihnen, zur Rechten des Shōgun, der über allen anderen auf einem Podium kniete, hatten Kammerherr Yanagisawa und sein Geliebter Platz genommen, Polizeikommandeur Hoshina. Auf den Gesichtern der Anwesenden spiegelte sich Besorgnis; alle schwiegen, als Sano und Hirata erschienen. Die Spannung im Saal war so dicht wie der Rauch, der von den metallenen Laternen an der Decke aufstieg.
Sano und Hirata knieten sich auf die obere Ebene links neben das Podium des Shōgun und verbeugten sich vor ihm und den Versammelten. Dann wandte Sano sich an Tokugawa Tsunayoshi. »Wie können wir Euch zu Diensten sein, Herr?«
Der Shōgun wollte etwas erwidern, doch die Stimme versagte ihm. Sein aristokratisches Gesicht war leichenblass, und sein schlanker, zierlicher Körper zitterte unter dem Nachtgewand aus weißer Seide. Sano erkannte Zorn und einen Ausdruck hilfloser Furcht in den sonst so sanften Augen des Herrschers.
»Sagt Ihr es ihm, Yanagisawa -san «, brachte der Shōgun schließlich mühsam hervor.
Der Kammerherr, der in seinem beigefarbenen Sommerkimono so elegant aussah wie immer, richtete den Blick seiner dunklen Augen auf Sano und Hirata. »Das ist Leutnant Ibe«, sagte er und wies auf den Offizier der Fernstraßen-Patrouille. »Er hat soeben die Nachricht überbracht, dass die ehrenwerte Mutter des Shōgun gestern auf der Tōkaidō entführt wurde – zusammen mit meiner Gemahlin und den euren.«
Der Schock verschlug Sano den Atem. Sein Verstand weigerte sich, die Worte Yanagisawas aufzunehmen. Stumm schüttelte er den Kopf, während Hirata einen gequälten Laut ausstieß. Doch die ernsten Gesichter der Anwesenden ließen erkennen, dass Kammerherr Yanagisawa die Wahrheit gesagt hatte.
»Wie ist es geschehen?«, fragte Sano, dem es nur mit Mühe gelang, seine Furcht niederzukämpfen.
»Dem Pilgerzug wurde auf einem einsamen Straßenabschnitt zwischen den Kontrollstationen Odawara und Hakone ein Hinterhalt gelegt«, erwiderte Yanagisawa.
»Wer waren die Täter?«, wollte Hirata wissen. Sein Gesicht war verzerrt vor Furcht um Midori und ihr ungeborenes Kind.
»Wir wissen es nicht«, sagte Yanagisawa. »Zurzeit haben wir keine Zeugen.«
Sano blickte ungläubig in die Runde. »Aber der Pilgerzug hatte ein Gefolge von mehreren hundert Personen! Da muss doch jemand etwas gesehen haben!«
Polizeikommandeur Hoshina und die fünf Ältesten senkten die Köpfe. Yanagisawa sagte: »Das gesamte Gefolge wurde bei dem Überfall getötet.«
Die Brutalität des Massakers verschlug Sano und Hirata die Sprache. Voller Trauer dachte Sano an seine beiden Ermittler. Yanagisawa blickte den Offizier der Fernstraßen-Patrouille an. »Leutnant Ibe hat das Verbrechen entdeckt«, sagte er. »Er wird euch berichten, was er vorgefunden hat.«
Leutnant Ibe war ein hagerer, sehniger Mann in den Zwanzigern. Seine nackten Arme und Beine und sein ernstes Gesicht waren mit Staub und getrocknetem Schweiß bedeckt, was darauf hindeutete, dass er einen Gewaltritt nach Edo hinter sich hatte. »Die Leichen lagen auf der Straße und im Wald, und überall war Blut«, berichtete der Leutnant. »Die Angreifer haben die Soldaten und Diener mit dem Schwert getötet, und den Frauen wurden die Kehlen durchgeschnitten. Das Gepäck war unangetastet. Ich habe in den Reisekisten Schatullen voller Goldmünzen gefunden. Aber die Sänften waren leer, und die vier Damen waren verschwunden.«
Sano kam ein erschreckender Gedanke. »Woher wollt Ihr wissen, dass sie entführt wurden und nicht …« Getötet, fügte er stumm hinzu, denn er brachte das Wort nicht über die Lippen. Hirata stieß ein dumpfes Stöhnen aus.
»In der Sänfte der Fürstin Keisho-in haben wir ein Schreiben gefunden«, erwiderte der Leutnant.
Kammerherr Yanagisawa reichte Sano ein Blatt gewöhnliches weißes Papier, das gefaltet, zerknüllt und dann glatt gestrichen worden war. Die Botschaft, in ungelenker Schrift mit schwarzer Tusche geschrieben, war mit Schmutz und Blut verschmiert.
Ehrenwerter Shogun,
wir haben Fürstin Keisho-in und ihre Freundinnen. Wenn Ihr uns verfolgen lasst, töten wir die Frauen. Ihr werdet bald erfahren, was Ihr tun müsst, um sie lebend zurückzubekommen. In Kürze erhaltet Ihr einen Brief von uns.
Das Schreiben trug keine Unterschrift. Sano reichte es an Hirata weiter, der die Notiz ebenfalls las und erschrocken nach Luft schnappte.
Leutnant Ibe fuhr fort: »Ich
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