Der Palast
sich vor Sano. Die Farbe kehrte in seine Wangen zurück.
Sano hoffte, die richtige Entscheidung getroffen und den Streit beigelegt zu haben. Doch er spürte die Spannungen noch immer. Diesmal war eine Grenze überschritten worden. Die Ermittlungen im Entführungsfall hatten die Freundschaft zwischen beiden Männern unwiederbringlich getrübt. Was die Zukunft brachte, vermochte Sano nicht zu sagen.
Die Feier der Namensgebung fand in Sanos Villa statt.
Midori ruhte auf weichen Kissen und hielt ihr Baby in den Armen. Hirata hatte dem kleinen Mädchen an diesem sechsten, verheißungsvollen Tag nach der Geburt den Namen Taeko gegeben. Während Taeko gurrte und gluckste, plauderten die weiblichen Verwandten und Freundinnen, die sich um das Baby versammelt hatten. Der kleine Masahiro schenkte Taeko seinen kleinen Spielzeughund. Das Baby hob seine winzige Hand, um ihn zu berühren, während Masahiro lachte und Midori zärtlich lächelte. Dienstmädchen servierten den Frauen Essen und Wein. Auf einem Tisch häuften sich rote Papierumschläge, die Glücksgeld enthielten, das die Teilnehmer der Feier dem Kind geschenkt hatten.
Reiko entfernte sich von der Gesellschaft und ging zu der verschiebbaren Wand, die die weiblichen von den männlichen Gästen trennte. Diese hatten den Festsaal verlassen und schlenderten durch den Garten. Obwohl Reiko froh war, wieder zu Hause bei ihrer Familie und ihren Freunden zu sein, fühlte sie sich unwohl. Auch Fürstin Yanagisawa war erschienen – offenbar fest entschlossen, die Freundschaft mit Reiko aufrechtzuerhalten, ungeachtet ihres Versuchs, Reiko zu töten. Außerdem hatte die Entführung Reiko gelehrt, dass Sicherheit bloß eine Illusion war. Weder die Liebe und Stärke ihres Gemahls noch die Macht des Shōgun konnten sie beschützen. Selbst dieses Fest vermochte ihre bedrückte Stimmung nicht aufzuhellen.
Seitdem Reiko die Insel verlassen hatte, litt sie unter Albträumen: Mörder jagten sie durch einen Wald, und der Drachenkönig misshandelte sie. Aus diesen Albträumen erwachte sie stets mit klopfendem Herzen und der Überzeugung, noch immer in dem Turm gefangen zu sein, statt neben Sano im Bett zu liegen. Bilder des blutigen Massakers quälten sie von früh bis spät. Sie sah das Gesicht des Drachenkönigs vor Augen. Sie spürte seinen starren Blick und seine heiße, feuchte Berührung und roch seinen stinkenden Atem. In der Musik der Samisen, die im Festsaal erklangen, glaubte sie, das Plätschern der Wellen zu hören – ein Geräusch, dem für sie bis in alle Ewigkeit etwas Bedrohliches anhaften würde.
Als Sano auf dem Weg zu den Gästen über die Veranda schritt, spähte er durch die Trennwand und blieb vor dem Gemach stehen. »Ist alles in Ordnung?«, fragte er Reiko.
Er stellte diese Frage mit der liebevollen Besorgnis, die er ihr gegenüber seit jener Nacht auf der Insel an den Tag legte. Doch die Erinnerung an die Geschehnisse trennte sie so wie die Trennwand zwischen ihnen.
»Ja, es geht mir gut«, schwindelte Reiko, die Sano nicht beunruhigen und ihm das Fest nicht verderben wollte. Selbst wenn sie mit ihrem Gemahl allein war, mochte sie ihm die schmachvolle Geschichte zwischen ihr und dem Drachenkönig nicht anvertrauen.
Sanos Miene verriet, dass er sich von ihrer Antwort nicht täuschen ließ. Reiko sah seinen fragenden Blick und spürte seinen Wunsch zu erfahren, was sie ihm verschwieg. Um weiteren Fragen aus dem Weg zu gehen, wechselte sie das Thema. »Es ist schön, dass so viele wichtige Leute gekommen sind, um Taeko -chans Namensgebung zu feiern.«
»Leider ist das nicht der Grund für ihr Kommen«, erwiderte Sano mürrisch. »Für sie ist es eher ein Vorwand für politische Plaudereien und nur in zweiter Linie ein Anlass, die Geburt des Kindes zu feiern.«
Reiko und Sano ließen den Blick über die Menge der Gäste schweifen. Reiko sah den Shōgun im Pavillon sitzen. Mit geröteten Wangen leerte er lachend die Sakeschalen, die katzbuckelnde Beamte ihm einschenkten. Fürstin Keisho-in, die an seiner Seite saß, machte jungen hübschen Dienern schöne Augen. Kammerherr Yanagisawa und mehrere seiner Gefolgsleute saßen unterhalb des Pavillons, in der Nähe des Shōgun. Priester Ryuko und eine Gruppe Mönche hatten auf der anderen Seite Platz genommen, unweit von Fürstin Keisho-in. Beide Parteien wechselten verstohlene Blicke voller Feindseligkeit.
Reiko folgte Yanagisawas Blick, der über den Garten zu Fürst Matsudaira, Fürst Kii, General Isogai und
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