Der Pate von Bombay
ließen mich gehen, sie standen abseits in einem Bogen da und überließen mich mir selbst. Ich setzte mich an den Rand des Plateaus und hielt in der scheckigen, gesprenkelten Weite unter mir nach einem Leoparden Ausschau. Komm, Leopard, sagte ich. Erlöse mich von diesem Problem. Ich hatte dem Mädchen versprochen zu helfen -bloß wie? Es war clever von ihr gewesen, mich als ersten anzusprechen und auf ihre Seite zu ziehen. Denn wäre ihr Vater dahintergekommen und hätte erst er mich angesprochen, dann hätte ich ihren zerlumpten Dalit ohne Zögern aufgreifen und von einer Klippe stürzen lassen. Einfach so. Aber was nun? Die Tochter hatte mich um Erbarmen gebeten, und ich war Ganesh Gaitonde. Doch der Vater war mein Freund.
Ich blieb sitzen, bis der Mond sich in den Höhen des Himmels verloren hatte, doch es kam weder ein Leopard noch eine einfache Antwort. Durch einen Mord ließ sich dieses Problem nicht lösen, und auch noch soviel Geld würde keinen Frieden erkaufen. Vater und Tochter liebten einander, und deshalb würden sie sich um so mehr hassen, sich weh tun, würden sich Verletzungen zufügen, zu denen kein Mörder je imstande wäre. Ich stand auf und ging zu den Jungs, die dösend nebeneinander saßen. Sie erhoben sich wankend, folgten mir zum Wagen. Chhota Badriya schlief tief und fest, das Gesicht an der Windschutzscheibe, die Lippen aufgeworfen und die Wange plattgedrückt. Ich klopfte auf Höhe seiner Nase an die Scheibe, und er erwachte und fingerte unter seinem Hemd herum, bis er mich erkannte. In diesem ersten Moment des Erwachens, des Zugreifens auf die Welt hatte er Angst gehabt. Ich erkannte die Panik wieder. Wir alle hatten Angst. Um überhaupt aus dem Haus, auf eine Straße dieser Stadt treten zu können, wo schon im nächsten Moment Kugeln durch die Luft zu schwirren drohten, schoben wir die Angst beiseite, versenkten sie in der tiefsten mondlosen Schlucht. Aber die Angst lebte weiter, sie regte und nährte sich wie ein Tier in der Nacht. Chhota Badriya mochte Mädchen, ganz junge. Er mochte sogar kleine ältere Frauen, die keine Mausambis hatten, die vorne und hinten flach waren und für ihn Rattenschwänzchen trugen, sich auf seinen Schoß setzten, von Puppen erzählten, den Kopf auf die Seite legten und kicherten. Manchmal vögelte er sie auch, aber ich glaube, das tat er nur, weil die anderen Jungs ihn sonst ausgelacht hätten. Ihm selber hätte es völlig gereicht, sie einfach nur zu halten, den Traum vom Spielen zu spielen und auf diese Weise eine Kindheit zu leben, die von der Zukunft unbelastet war. Jetzt räusperte er sich lautstark, kurbelte das Fenster herunter und spuckte aus.
»Du Sack«, sagte ich. »Du bist wirklich eine ausgezeichnete Wache.«
»Tut mir leid, Bhai«, sagte er. »Ich hab überall Leoparden gesehen. Ich dachte, ich würde kein Auge zutun. Aber dann muß ich wohl doch eingeschlafen sein.«
»Du hast geschlafen wie ein Baby, Chutiya.« Aber ich strich ihm dabei über den Kopf. Er war ein guter Junge. Tapfer und wachsam, wachsam für mich, und intelligent. Er hatte ein scharfes Auge, registrierte Gesichtsausdrücke, an ungewöhnlichen Stellen geparkte Autos, und besaß ein feines Gespür für Gerüchte. Doch in meiner jetzigen verzwickten Lage konnte er mir nicht helfen, bei diesem delikaten Problem, das zu gebrochenen Herzen und eingeschlagenen Köpfen führen würde. Keiner von ihnen konnte mir helfen. Es machte mich wütend, plötzlich wieder in die glitschigen Untiefen der Familie gerutscht zu sein. Ich hatte mich darüber erhoben, hatte das alles hinter mir gelassen. Ich war allein gewesen. Doch es gab kein Entkommen. Die Reifen klatschten auf die Straße, wir fuhren zurück in die Stadt.
Am nächsten Tag gingen wir in die letzte Phase des Wahlkampfs. Bipin Bhonsle rief immer wieder an, so höflich wie bei unserem ersten Treffen, aber nervlich am Ende, um sich ein weiteres Mal bestätigen zu lassen, daß wir ihm auch wirklich zu seinem kostbaren Sitz verhelfen würden. Der Amtsinhaber von der Kongreßpartei war durch die Bastis gezogen und hatte Hundert-Rupien-Scheine und ganze Ziegen an die Bürger verteilt. Gutes, frisches Fleisch, so lernte ich, ist die Grundlage manch einer politischen Laufbahn. Es leuchtete mir ein. Ein Armer schlägt sich den Bauch voll, genießt sein Essen, ölt sich die Kehle mit ein oder zwei kostenlosen Drinks, vielleicht auch dreien, aber nicht mehr, denn er hat noch etwas vor, er besteigt seine Frau, und am nächsten Morgen
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