Der Pate von Bombay
nicht? Warum passiert dies, aber nicht das? Die Sanskrit-Verse krochen unter meine Haut, ich spürte, wie sie meine Seele zersplitterten, und in mir stieg die Frage auf: Wer ist Ganesh Gaitonde?
Nachdem die Feierlichkeiten vorüber waren, nach dem Essen und Trinken und den Abschiedsritualen, sagte ich Paritosh Shah, seiner Frau, seinen Eltern und den Bataillonen von Gujaratis auf Wiedersehen; er begleitete mich noch zum Auto, und selbst inmitten all des Trubels bemerkte er, daß mich etwas umtrieb. »Was ist los, Bhai? Du siehst müde aus. Kannst du immer noch nicht schlafen?«
»Ja, ich bin sehr müde«, sagte ich.
»Hör mir mal zu. Du kannst so nicht weitermachen. Nimm heute nacht eine Calmpose, und morgen kümmern wir uns um deine Gesundheit.«
»Morgen muß ich dich um einen Gefallen bitten.«
»Einen Gefallen? Was denn? Sag es mir doch gleich.« Er beugte sich zu mir, den Arm um meine Schultern gelegt. Auf seiner Stirn war ein großer roter Tikka-Fleck 633 , ich konnte die winzigen weißen Reiskörner darin sehen. »Sag es mir.«
»Nicht heute, Paritosh Shah. Morgen.«
»Na gut, dann morgen.« Er trat näher, zog mich in seine kissenweiche Umarmung und klopfte mir auf den Rücken. »Ich komme morgen früh zu dir.«
»Nein, ich komme zu dir.« Ich drückte seine Schulter und trat zurück. »Bitte.«
»Auch gut, wie du es möchtest, Yaar. Wann immer es dir paßt. Ich bin morgen den ganzen Tag zu Hause.« Er war verwirrt. Diesen Ganesh Gaitonde war er nicht gewohnt. Um ehrlich zu sein, war es ein Ganesh Gaitonde, den auch ich kaum kannte. Ich hatte in letzter Zeit Mühe gehabt, Schlaf zu finden, aber jetzt war ich ins Schwimmen geraten, war in unbekannte, schwere See geworfen worden von dieser halben Portion, diesem schmächtigen Mädchen, dem ich nichts schuldig war.
»Bis morgen«, sagte ich mit erhobener Hand und fuhr nach Hause. In dieser Nacht war es mir egal, daß ich schwach gewirkt hatte, und ich spürte meine Scham nur wie eine vage Irritation. Ich nahm eine Calmpose und schlief, doch ich träumte von einem schwarzen Meer, das seine endlose Dünung gegen mich schleuderte, und es gab kein Leben, nichts Lebendiges unter dem flachen weißen Himmel, nur mich, und ich war allein.
Am nächsten Morgen kam Bipin Bhonsle mit Geschenken. Er brachte mir in vier Plastiktüten das Bargeld, das er mir schuldete, doch außerdem kam er mit einem nagelneuen Videorecorder von Sony und vier Videos, alles amerikanische Filme, sowie vier Schachteln Süßigkeiten. »Mein Vater hat gemeint: ›Bring ihm einen guten Scotch mit‹, aber ich habe ihm gesagt: ›Ganesh-bhai rührt das Zeug nicht an, und ich verstehe auch, warum. Deshalb ist er nämlich so effizient.‹« Er saß auf der Stuhlkante, ernst und zugleich enthusiastisch. »Und wissen Sie was, Ganesh-bhai? Ich habe einen Entschluß gefaßt. Ab heute ist es auch für mich vorbei mit dem Alkohol. Ich werde von Ihnen lernen. Es gibt viel zu tun, jetzt, wo wir gewonnen haben. Keine Zeit für Saufereien. Wir müssen weiter gewinnen.«
»Ja«, sagte ich. Ich war müder als zuvor aufgewacht, und meine Beine waren schwer, unbeweglich, als wäre das Blut darin zu einer festen Masse geronnen. Doch angesichts Bipin Bhonsles Eifers raffte ich mich auf. »Gut, Bipin, gut. Ein nüchterner Mann ist zielorientiert, wach und aufmerksam. Whisky, Rum, das ist alles nicht nötig. Das Leben selbst reicht völlig aus.« Es war eine Rede, die ich schon viele Male gehalten hatte. Für ihn war sie neu.
»Ja, Ganesh-bhai, Sie haben recht: Das Leben selbst reicht völlig aus. Aber hier, bitte - viel Spaß damit.« Er hielt mir die Videokassetten hin. »Es sind alles internationale Hits. Voller Action. Sie werden Ihnen gefallen.« Er war so dankbar, daß es eine Stunde dauerte, ihn wieder loszuwerden, und auch dann ging er nur, weil ich ihm sagte, daß ich eine Verabredung mit Paritosh Shah hätte und bereits zu spät kommen würde. Er ging unter lautstarken Beteuerungen seiner ewigen Loyalität, wenn ich irgend etwas brauchte, solle ich mich an ihn wenden, er sei natürlich nur ein kleiner Mann, aber wenn ich irgend etwas wolle, solle ich ihn anrufen, und in Sachen internationale Unterhaltung sei er ein echter Experte. »Heiße Videos, Elektronik, Zigarren, egal was, Ganesh-bhai, egal was«, sagte er, während er schon die Treppe hinunterging. Er trug ein orangefarbenes Hemd mit Blumenmuster, eine braune Gabardinehose und rotbraune Schuhe, schimmernd und mit goldenen Schnallen. Als
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